Vertrauen in den Staat ist ein kostbares Gut

In seinem jüngsten Buch „Trust in Divided Societies: State, Institutions and Governance in Lebanon, Syria and Palestine“ vertritt der Politikwissenschaftler Abdalhadi Alijla die Ansicht, die Krise der Staatlichkeit im Nahen Osten habe keine kulturellen Ursachen, sondern sei auf das Versagen staatlicher Institutionen zurückzuführen. Mit Alijla sprach Tugrul von Mende für Qantara.de.

Von Tugrul von Mende

Herr Alijla, in Ihrem Buch vertreten Sie die These, staatliche Institutionen seien maßgeblich für die Vertrauenskrise in gespaltenen Gesellschaften verantwortlich. Inwiefern befinden sich staatliche Institutionen im Libanon, in Syrien und in Palästina in einer Krise?

Abdalhadi Alijla: Die Institutionen stecken in der Krise, weil sie strukturell die Ungleichheit zwischen Individuen, sozialen Klassen, Geschlechtern, Ethnien und Gruppen fördern. Infolgedessen begünstigen sie Korruption als informellem Phänomen in ihrer jeweiligen Gesellschaft. Meine Arbeit ist Teil einer anhaltenden Auseinandersetzung und Debatte unter Wissenschaftlern aus Soziologie, Politik, Psychologie und anderen Disziplinen. Ungeachtet der Tatsache, dass Institutionen in Ländern weltweit Gegenstand vieler Forschungsprojekte sind, steht offenbar im Nahen Osten immer die Kultur im Mittelpunkt.

Trust in Divided Societies liefert den empirischen Beweis, dass das grundsätzliche Misstrauen in gespaltenen Gesellschaften weder kulturelle noch ethnische oder konfessionelle Ursachen hat, sondern vielmehr in den Institutionen selbst mit all ihren Begleiterscheinungen wie beispielsweise Ungleichheit, Korruption, administrativer Willkür und Machtmissbrauch  begründet ist. Mein Buch ist auch ein Appell an meine Kollegen, mehr zu diesem Thema zu forschen, in den Communities oder in anderen Forschungsbereichen.

Cover von „Trust in Divided Societies“ von Abdalhadi Alijla (erschienen bei Bloomsbury)
According to Abdalhadi Alijla, his book "provides empirical evidence that the source of generalised distrust in divided societies is down neither to culture nor ethnic/sectarian divisions, but rather the institutions themselves, with all their attendant inequality, corruption, administrative arbitrariness and exploitation of power"

Zum Libanon schreiben Sie, „je unfairer, ungleicher, korrupter die Institutionen [sind], desto weniger vertrauen Menschen einander.“ Wie messen Sie den Einfluss der Korruption auf das Vertrauen der Menschen in ihre jeweilige Regierung?

Alijla: Korruption an sich ist ein informelles Phänomen und findet sich in fast jeder Gesellschaft, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen. In meinem Buch beziehe ich mich nicht nur auf die international veröffentlichten Rankings, sondern auch darauf, wie Menschen Korruption wahrnehmen, wie sie diese erleben, was sie von anderen hören und wie sie die Qualität von Dienstleistungen staatlicher Institutionen einschätzen. Die Menschen im Libanon und in anderen Ländern zahlen Steuern. Im Gegenzug erwarten sie gute Dienstleistungen: Sicherheit, Schutz, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Doch im Libanon erfahren die Menschen weder eine faire Behandlung noch werden sie gleich behandelt. Denken Sie beispielsweise an die Infrastruktur des Landes. In einigen Gebieten sind die Straßen gut ausgebaut und werden unterhalten, in anderen, verkehrsreichen Gebieten jedoch nicht. Auch das Bildungssystem weist Ungleichheiten auf.

Inwieweit hat sich Ihr Verständnis von Vertrauen und Misstrauen während der Recherche zu Ihrem Buch verändert?

Alijla: Wissenschaftlich gesehen, bleibt Vertrauen das, was es schon immer war: eine positive Kraft. Es geht darum, dass Menschen nicht befürchten müssen, von anderen ausgenutzt zu werden – auch nicht von den Institutionen, die sie schützen und die ihnen dienen sollen. Aber wenn man als Forscher vor Ort ist, gewinnt man einen anderen Blick darauf. Vertrauen kann sich unterschiedlich zeigen und unterschiedliche Sichtweisen abbilden.

Im Jahr 2019 trat Saad Hariri unter dem Druck landesweiter Proteste von seinem Amt als Ministerpräsident des Libanon zurück. Ein Jahr später, nach der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August, wurde er mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Bildung von Vertrauen in der libanesischen Gesellschaft aus?

Alijla: Diese Entscheidung hat nichts mit dem Vertrauen zwischen Individuen oder dem Vertrauen von Menschen in staatliche Institutionen zu tun. Sie ist Teil eines Schauspiels, das die politische Elite des Landes für regionale und internationale Akteure inszeniert. Trotzdem bleiben die Forderungen der Bevölkerung sehr wichtig: Die Menschen verlangen neue Institutionen oder die Reform von Justiz, Politik, Sicherheitswesen und Sozialsystemen. Das Problem liegt nicht nur bei den diversen politischen Eliten, sondern auch bei den Institutionen, die diese Eliten geschaffen haben. Ganz gleich, wer ernannt wird – ob Hariri oder irgendjemand anderes –, die Menschen wollen Sicherheit und Schutz in der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Krise.

Demonstrant am Jahrestag der regierungskritischen Proteste in Beirut; Foto: Emma Freiha/Reuters
According to Abdalhadi Alijla, "When the Lebanese took to the streets in October 2019, and the Lebanese political elites felt that the agreement was at risk, there was some indication that the world and regional powers might give the green light for change. That was when the elites responded. Things changed; since then there have been more arrests, more fearmongering, and more oppression". Pictured here: a protester on the anniversary of the anti-government protests in Beirut

Warum stecken Libanon, Syrien und Palästina in der Krise und warum gelingt es den staatlichen Institutionen nicht, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen?

Alijla: Eines haben die drei Fallbeispiele gemeinsam: eine Dysfunktionalität formaler Institutionen seit ihrem Bestehen. Schauen wir zunächst auf Syrien. Ich behaupte, der Bürgerkrieg in Syrien ist nicht konfessioneller Natur, vielmehr wurde er vom Regime konfessionell aufgeladen. Nicht der Bürgerkrieg hat das Vertrauen in die Institutionen geschwächt: Es war bereits vor dem Krieg schwach ausgeprägt aufgrund von politischer Korruption, Unterdrückung, eingeschränkter Meinungsfreiheit und dem Fehlen unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen. Die Menschen nahmen an, ihre Verwandten seien Spitzel des staatlichen Sicherheitsapparats. Den Kurden wurde zwar politische Macht eingeräumt, aber sie wurden kulturell unterdrückt. Andererseits erhielten die Araber kulturelle Rechte, wurden aber politisch unterdrückt.

Im Libanon sind nach wie vor konfessionelle Gruppen und politische Eliten aus der Zeit des Bürgerkriegs an der Macht. Das Abkommen von Ta'if von 1989 war nicht auf Veränderung angelegt. Sämtliche seit Ende des Bürgerkriegs eingerichteten Institutionen beruhen weitgehend auf diesem Abkommen. Ta'if lässt sich nur ändern, wenn dies regional und  international gewollt wird. Als die Libanesen im Oktober 2019 auf die Straße gingen und die libanesischen politischen Eliten das Abkommen von Ta'if bedroht sahen, deutete einiges darauf hin, dass die regionalen Mächte und die internationale Gemeinschaft grünes Licht für Veränderungen geben könnten. In diesem Moment reagierten die Eliten. Seither gibt es mehr Verhaftungen, mehr Einschüchterung und mehr Unterdrückung.

Abdalhadi Alijla; Foto: Patrick Mzaaber, Orient-Institut Beirut (OIB)
"It can be hard for researchers to separate themselves from their background and their emotional ties, especially if they have been politically active," says Abdalhadi Alijla (pictured here). "[…] I have been very careful in my choice of words, yet there can be no denying that a crime is being committed in Palestine against the current generation. My position here is with the people – with the young generation, and future generations"

In den besetzten Gebieten schuf das Oslo-Abkommen scheinbar eine Mittelschicht, die vom Status quo profitiert. Als dann die Hamas 2007 die Wahl gewann, verschoben sich die Verhältnisse deutlich. Die Angst, ihren Status zu verlieren, erschütterte die privilegierten, mit der PLO verbundenen Eliten bis ins Mark. Sie lehnten daher die demokratische Übergabe an die Hamas ebenso wie die neue Realität ab (wobei sie eine gewisse Unterstützung der USA erhielten). Diese Spaltung bedeutete die Fortsetzung des Oslo-Abkommens: Die weitere Zähmung der politischen Eliten und auch der politischen Parteien durch diese Institutionen. Sowohl Hamas als auch Fatah sind an die Institutionen gebunden, die nach dem Oslo-Abkommen entstanden. Doch diese Institutionen wurden von den Eliten für ihre Zwecke und die ihrer Parteien manipuliert. Sie haben zu Korruption und zur Bildung elitärer zivilgesellschaftlicher Organisationen geführt, die dazu dienen, formale Institutionen zu ersetzen und Spaltung, Korruption und Klientelismus zu vertiefen.

Welche Rolle spielen staatliche Institutionen bei der Bildung von Vertrauen in diesen gespaltenen Gesellschaften?

Alijla: Institutionen sind von großer Bedeutung für den Aufbau von Sozialkapital und für die Wahrung von Vertrauen. Bürgerkrieg und Gewalt sind in gespaltenen Gesellschaften Manifestationen der gleichen Faktoren, die auch für ein geringes grundsätzliches Vertrauen verantwortlich sind. Zivilgesellschaftliche Organisationen und das Justizsystem sind essentiell, um Vertrauen in solchen Gesellschaften aufzubauen. Diese Perspektive auf Staatswesen wurde so zuvor nicht empirisch untersucht. Gerade in gespaltenen Gesellschaften werden effiziente und alle Bürger gleich behandelnde Institutionen benötigt, um Konflikte und Spannungen auf einem beherrschbaren Niveau zu halten.

Wie relevant ist Ihr Thema für das Verständnis der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Realitäten in der arabischen Welt?

Alijla: Wir können hier beobachten, wie sich der Mangel an Vertrauen und schwache Institutionen wechselseitig beeinflussen. Die aktuellen Proteste in der Region sind das Ergebnis von fehlendem Vertrauen in die Institutionen. Wir bewegen uns offenbar in einem Teufelskreis aus Korruption, Ungleichheit, Misstrauen in die Institutionen, Protesten und konfessionellen Spannungen. Diese Melange nährt ein grundsätzliches Gefühl des Misstrauens. Wir müssen untersuchen, was es überhaupt an Vertrauen gibt und besser verstehen, wie die jeweiligen Institutionen in ihrem Umfeld agieren. Wenn wir die Institutionen zwar umbauen, aber ohne dass sie für alle Bürger gleiche Dienstleistungen erbringen und alle Bürger gleich behandeln – wozu auch eine zuverlässige, unabhängige Justiz und unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen gehören – dann hat eine solche Gesellschaft kein Entwicklungspotenzial.

Wie persönlich ist dieses Buch für Sie als jemand mit palästinensischer Herkunft? War es schwierig, eine Linie zwischen Ihrem persönlichen Hintergrund und Ihrer Arbeit als Wissenschaftler zu ziehen?

Alijla: Für Wissenschaftler kann es schwer sein, sich von ihrem Hintergrund und ihren emotionalen Bindungen zu lösen, besonders wenn sie politisch aktiv waren. Ich nehme seit jeher eine unparteiische, akademische Position ein und bin mir der Risiken einer verzerrten Sichtweise durchaus bewusst. Ich habe meine Worte sehr vorsichtig gewählt, aber ich schreibe auch, dass in Palästina ein Verbrechen an der heutigen Generation begangen wird. Ich stehe an der Seite des Volkes – an der Seite der jungen Generation und der zukünftigen Generationen.

Das Interview führte Tugrul von Mende

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers

 

Abdalhadi Alijla, "Trust in Divided Societies: State, Institutions and Governance in Lebanon, Syria and Palestine", Bloomsbury 2020