Eine Justiz richtet sich selbst

Statt sich zu reformieren, kompromittiert sich Ägyptens Justiz als Racheengel gegen die Muslimbruderschaft. Sie fällt nicht nur wegen ihrer gnadenlosen Urteile auf, sondern hat auch gnadenlos versagt. Der Niedergang der dritten Gewalt im Staate ist ein Verhängnis, dessen Preis am Ende alle Ägypter zahlen werden, meint Karim El-Gawhary.

Von Karim El-Gawhary

Massenhafte Todesurteile scheinen mittlerweile zur traurigen Realität der ägyptischen Gerichtsbarkeit zu gehören. Nach nur zwei Prozesstagen, und praktisch ohne Beweisaufnahme, verurteilte am Montag (28.4.2014) ein ägyptischer Richter in Minia 683 Menschen zum Tode, darunter Muhammad Badie, den Chef der Muslimbruderschaft.

Der gleiche Richter hatte bereits einen Monat zuvor 529 angeklagte Muslimbrüder in einem anderen Massenschnellverfahren zum Tode verurteilt, auch wenn er nun lediglich 37 der von ihm in erster Instanz verhängten Todesurteile bestätigt und den Rest in lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt hat.

In beiden Prozessen wurden die Angeklagten für schuldig befunden, Polizisten angegriffen und zur Gewalt aufgerufen zu haben sowie öffentliches und privates Eigentum zerstört zu haben. In beiden Fällen ging es um einen Angriff eines Mobs auf Polizeistationen im südlichen Oberägypten – an dem Tag, an dem die Polizei und das Militär Protestlager der Muslimabrüder und der Putschgegner in Kairo brutal aufgelöst hatten.

Nachhaltiger Image-Schaden für die Justiz

Aktivisten der Jugendbewegung 6. April in Kairo; Foto: DW
Politisches Aus für die Initiatoren der Januar-Revolution gegen das Mubarak-Regiem: Ein Gericht in Ägypten hat alle Aktivitäten der oppositionellen Jugendbewegung 6. April verboten. Der Organisation werden nach Angaben der Justizbehörden vom Montag Spionage und Verleumdung des ägyptischen Staates vorgeworfen. Die Gruppe war 2011 maßgeblich an der Organisation der Massenproteste gegen Präsident Husni Mubarak beteiligt.

Ebenfalls an diesem Montag (28.4.2014) verbot ein anderes ägyptisches Gericht die säkulare Jugendbewegung 6. April, einer Gruppierung junger Tahrir-Aktivisten, die maßgeblich am Sturz Mubaraks beteiligt war. Der Organisation wurde vorgeworfen, Spionage betrieben und das Image Ägyptens beschädigt zu haben. Doch dürfte mit dem heutigen Tag wohl vor allem das Image der ägyptischen Justiz einen schweren Schaden erfahren haben.

Angesichts des "Zweierlei Maß"-Urteils, mit dem Ägyptens Justiz gerichtet hat, müssten Staatsanwaltschaft und Richter eigentlich selbst auf der Anklagebank Platz nehmen. Denn während beispielsweise im ersten Verfahren gleich 529 mutmaßliche, als Terroristen gebrandmarkte Muslimbrüder zum Tode verurteilt wurden, hat sich bis heute kein Gericht mit der blutigen Auflösung der Protestlager der Muslimbrüder und Putschgegner durch die Polizei und die Armee beschäftigt, die die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Oberägypten erst möglich gemacht hatten. Dabei kamen nach offiziellen Angaben im vergangenen Sommer 623 Menschen ums Leben, andere Berichte sprechen von mehr als tausend getöteten Personen.

Selbst für die 840 Ägypter, die ihr Leben während des Aufstands gegen die Mubarak-Diktatur lassen mussten, wurde bislang kaum jemand juristisch zur Verantwortung zur Rechenschaft gezogen. Nur drei Polizeibeamte niedrigen Ranges erhielten geringfügige Strafen, 183 angeklagte Polizeioffiziere wurden freigesprochen. Der Prozess gegen Mubarak selbst und seinen damaligen Innenminister zieht sich nun seit drei Jahren hin. Ursprünglich war der Pharao zu lebenslanger Haft verurteilt worden, jedoch wurde das Verfahren neu aufgerollt und läuft noch immer.

Eine Justiz als Erfüllungsgehilfin des Regimes?

Gegen die säkularen Tahrir-Aktivisten der 6. April-Bewegung erfolgte das Verbot dagegen von einem Tag auf den anderen und selbst Journalisten wurden wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, aufgrund ihrer Kontakte zur Muslimbruderschaft, vor Gericht gezerrt.

Auch Studierende werden nach den jüngsten gewalttätigen Auseinandersetzungen an Universitäten für 17 Jahre ins Gefängnis gesteckt. 21 junge Frauen aus Alexandria, darunter sieben Minderjährige, erhielten im November letzten Jahres Gefängnisstrafen von bis zu elf Jahren, weil sie an einer Demonstration zur Unterstützungen des vom Militär geschassten Präsidenten Mohammed Mursi teilgenommen hatten.

Auch wenn manche der Urteile gegen Muslimbrüder und Putschgegner im Berufungsverfahren abgemildert worden sind und gleiches auch für die jetzt ausgesprochenen Todesurteile in der nächsten Instanz zu erwarten ist: der Image-Schaden für die ägyptische Justiz ist enorm, wenn sie die erste Instanz dazu verwendet, politische Botschaften auszusenden, bevor in der zweiten vielleicht so etwas wie ein rechtsstaatlicher Prozess beginnt.

Demonstration von Aktivisten der Bewegung 6. April vor dem Obersten Gerichtshof in Kairo; Foto: Reuters
Protest gegen eine Justiz im Dienste des Regimes: Aktivisten der Jugendbewegung 6. April demonstrieren gegen die Verurteilung ihrer Mitglieder und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit am 6. April 2013 vor dem Obersten Gerichtshof in Kairo. Der Anführer der Bewegung 6. April, Ahmed Maher, wurde im Dezember wegen nicht genehmigter Proteste zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Tatsächlich wäre es aber zu einfach zu glauben, die ägyptischen Richter bekommen einen Anruf von oben, der ihnen das Urteil vordiktiert. Schon zu Mubaraks Zeiten war die Dynamik zwischen Regime und Justiz aber in Wirklichkeit viel komplizierter. Das Regime konnte immer Schlüsselpositionen besetzten, wie die des obersten Verfassungsrichters oder den obersten Staatanwalts, aber so manche Richter fällten immer wieder Urteile, die gar nicht nach dem Geschmack des Regimes waren, damals auch oft gegen die Muslimbruderschaft.

Paralleljustiz

Damals urteilten sie manchmal gar auf Freispruch, weil die Geständnisse der Angeklagten durch Folter zustande gekommen und damit gerichtlich nicht verwertbar gewesen seien. Die "Unzuverlässigkeit" der Richter war einer der Gründe dafür, weshalb das Mubarak-Regime parallel zur Justiz eine die Militärgerichtsbarkeit gegen Zivilisten ausbaute, um dort die gewünschten Urteile zu erhalten.

2006 gingen reformorientierte Richter gar auf die Straße, um gegen massiven Wahlbetrug zu protestieren, die sie zu beaufsichtigten hatten – fünf Jahre vor der Revolution waren sie es, die Richter, die die Vorhut des Protests gegen das Regime stellten. Aber die Mehrheit der Richter passte sich daran an, in einem autokratischen Umfeld manchmal Recht und manchmal Unrecht zu sprechen und hofften dabei, nicht bei den Machthabenden anzuecken.

Nach dem Sturz Mubaraks blieb die Justiz vollkommen unangetastet. Verfahren gegen die Vertreter des alten Regimes wurden, wenn überhaupt, nur sehr zögerlich aufgenommen. Das lag nicht nur an den Richtern. Mubaraks obsterster Staatsanwalt blieb zunächst im Amt. Und auch das Innenministerium, zuständig für die Untersuchungen und die Beweisaufnahme, zeigte sich als Hort des alten Regimes, nur wenig motiviert.

Unter dem von den Muslimbrüdern stammenden Präsidenten Mohammed Mursi kam es dann zu einer direkten Konfrontation. Mursi warf der Justiz vor, ein Restposten des Mubarak-Regimes zu sein. Die Richter wiederum hielten Mursi vor, die Justiz kontrollieren und mit Muslimbruder-nahen Vertretern besetzten zu wollen. Das Verfassungsgericht löste aufgrund einer Formsache das gewählte Parlament auf, in dem die Muslimbrüder die Mehrheit stellten. Die Muslimbrüder sprachen von einem Justiz-Coup – damals ahnten sie noch nicht, dass ein echter Militärputsch noch folgen würde.

Auf Konfrontationskurs mit der Muslimbruderschaft

Anhänger von Ex-Präsident Mohammed Mursi in Kairo; Foto: dpa/picture-alliance
Vorprogrammierter Konflikt: Zum endgültigen Bruch mit der Justiz kam es im November 2012, als Mursi ein Präsidialdekret erließ, in dem er seine Entscheidungen als von der Gerichtsbarkeit immun erklärte. Damit ging die Richterschaft endgültig auf die Barrikaden. Von jetzt an war die Justiz eine der Schlüsselinstitutionen, die den Sturz Mursis aktiv betrieben.

Zum endgültigen Bruch kam es dann im November 2012, als Mursi ein Präsidialdekret erließ, in dem er seine Entscheidungen als von der Gerichtsbarkeit immun erklärte. Nun ging die Richterschaft endgültig auf die Barrikaden. Von jetzt an war die Justiz eine der Schlüsselinstitutionen, die den Sturz Mursis aktiv betrieben. Aber es gab auch Widerspruch gegen das Militär: 75 Richter, die öffentlich erklärt hatten, dass Mursi unrechtmäßig aus dem Amt entfernt worden war, wurden vom Richter-Vereinigung suspendiert. Ihnen wurde ein Disziplinarverfahren angehängt, weil sie verbotenerweise politisch aktiv seien. Eine Regel, die natürlich nicht für die Richter galt, die den Putsch öffentlich unterstützten.

In der neuen Verfassung des Landes bildet die Justiz nun einen geschlossenen Kreis. Scheidet ein Richter aus dem Verfassungsgericht aus, dürfen seine Kollegen einen Nachfolger wählen. Die Richter wählen den obersten Staatsanwalt und die Richterschaft muss neuen Gesetzen zur Regelung der Justiz zustimmen, bevor sie dem Parlament vorgelegt werden können. 

Was wie die perfekte Unabhängigkeit der Justiz aussieht, birgt die Gefahr in sich, dass die ägyptische Justiz von gesellschaftlichen und politischen Prozessen vollkommen isoliert bleibt – als eine eigene Kaste, die sich nie neu erfinden muss, hat sie damit jeglichem Reformversuch von außen einen Riegel vorgeschoben.

Statt sich zu reformieren, kompromittiert sich die ägyptische Justiz als Racheengel gegen die Muslimbruderschaft. Dabei sehen sich die Richter nicht so sehr als Erfüllungsgehilfen eines Regimes. Sie glauben vielmehr, als eine Art Beschützer des Staates auftreten zu müssen, den sie durch eine Art "internationale Verschwörung der Muslimbruderschaft" in Gefahr sehen, entsprechend der Hetze, die gegenwärtig in den ägyptischen Medien stattfindet und die eine "Entweder die oder wir"-Stimmung gezielt schürt.

Ägyptens Justiz hat sich klar auf eine Seite geschlagen, obwohl sie gerade heute, in einer politisch polarisierten Lage, eigentlich als neutrale Rechtsprechung hätte fungieren müssen. Das wäre genau der Testfall, womit die Justiz durch rechtsstaatliche Verfahren ihre Professionalität und ihre Unabhängigkeit unter Beweis hätte stellen können. Ägyptens Justizia fällt stattdessen nicht nur gnadenlose Urteile auf, sie hat auch gnadenlos versagt. Der Ausfall der dritten Gewalt im Staate ist ein Verhängnis, dessen Preis am Ende alle Ägypter zahlen werden.

Karim El-Gawhary

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de