Chance für eine muslimische Reformation?

Viele Muslime, die den IS als un-islamisch bezeichnen und darauf verweisen, dass er nichts mit dem "wahren Islam" zu tun habe, können nicht leugnen, dass sich viele Muslime doch mit dem Islambild der Dschihadisten und ihrer Ideologie identifizieren. Eine grundlegende Kritik des islamischen Glaubens ist daher längst überfällig, meint Hakim Khatib.

Von Hakim Khatib

Der sogenannte "Islamische Staat" (IS), früher auch "Islamischer Staat in Irak und Syrien" (ISIS) genannt, hat bisher nichts als Zerstörung, Chaos und Sektierertum hervorgebracht. Mit ihrer Terrorstrategie haben sich die Dschihadisten schnell über große Teile des östlichen Syriens und des nördlichen wie zentralen Irak ausgebreitet.

Sie rekrutieren Menschen aus allen Ländern der Welt, doch hauptsächlich aus muslimischen Staaten. Den größten Anteil der Herkunftsländer der Rekruten stellt die arabische Welt. Während der IS Unterstützer und Sympathisanten warb, riefen sunnitische Geistliche immer wieder zu "materieller wie moralischer" Unterstützung für die syrischen Rebellen auf. Und so strömten Tausende ausländischer Kämpfer nach Syrien, um am Dschihad teilzunehmen.

Laut einer 2014 durchgeführten Studie des auf den IS spezialisierten Think Tanks "Soufan Group" in Hinblick auf die Zahl ausländischer Kämpfer in Syrien, wird geschätzt, dass die meisten aus Tunesien stammen (um die 3.000), gefolgt von Saudi-Arabien (etwa 2.500), Marokko (ungefähr 1.500), Russland (um die 800), Frankreich (700) sowie der Türkei (und dem Vereinigten Königreich (jeweils etwa 400). Hierbei sind nicht die Syrer und Iraker mitgerechnet, die bereits dem IS angehörten.

Die arabischen Führer des IS sind Abu Bakr al-Baghdadi (im Irak), der sich seit 2014 auch als Kalif Ibrahim bezeichnet und sich so in eine Reihe mit dem Propheten Mohammed stellt. In Syrien ist es Abu Muhammad al-Dschaulani (benannt nach den von Israel besetzten Golanhöhen), der als Emir des "Islamischen Staates" den Krieg in Syrien anführt. Kalif bedeutet, wörtlich übersetzt, Nachfolger – also Beherrscher der muslimischen Gemeinschaft, während Emir die Bedeutung "Fürst" hat – ein militärischer Kommandant und der Gouverneur einer Provinz.

Fester Bestandteil der Gesellschaften

Der "Islamische Staat" scheint eine klar durchdachte ideologische Strategie zu verfolgen. Es sollte den Muslimen bekannt sein, und hier vor allem den politischen und religiösen Eliten, dass diese Lehren noch immer in islamischen Büchern zu finden sind, im Freitagsgebet gepredigt werden und sich sogar in Schulbüchern zu finden sind.

Ahmed al-Tayeb, Großscheich der Kairoer Al-Azhar-Universität; Foto: AFP
Der Terrorismus sei eine Krankheit, die die Religion als Deckmantel missbrauche, erklärte Ahmed al-Tayeb, Großscheich der Kairoer Al-Azhar-Universität. Die Gewalttaten der Dschihadisten stünden in keiner Verbindung zum echten Islam. "Es ist eine große Ungerechtigkeit und zeugt von Voreingenommenheit, die Anschläge mit dem Islam in Verbindung zu bringen, nur weil die Täter 'Allahu Akbar' rufen, während sie ihre Grausamkeiten begehen", mahnte Tayeb.

Die Ideologie des "Islamischen Staates" ist eine von mehreren Lesarten der beiden wichtigsten Texte des Islam, also des Koran und die Überlieferungen der Aussprüche, Taten und Handlungen des Propheten Muhammad. Der vom "Islamischen Staat" favorisierte Salafismus stellte eine Erweiterung des religiösen Fundamentalismus in den arabischen Gesellschaften dar. Doch solch eine apokalyptische Interpretation des Islam ist für die Mehrheit der Muslime nicht akzeptabel.

Der oberste Imam der Al-Azhar-Universität in Kairo, Ahmed al-Tayeb, sagte, dass die extremistischen Gruppen, die Menschen im Namen des "Islamischen Staates" töten und regelrecht abschlachten, weder die Muslime allgemein vertreten, noch den Propheten Mohammed und seine Lehren. Die verabscheuungswürdigen Taten dieser Gruppen würden vielmehr die tatsächliche Botschaft des Islam wiederholt besudeln und verzerren.

Darüber hinaus erklärte der Großmufti von Ägypten, Shawqi Alam, dass es ein großer Fehler sei, eine Terrororganisation wie den IS als "Islamischen Staat" zu bezeichnen. Diese Organisation spricht und handelt gegen die menschlichen und religiösen Lehren und gegen die Rechtsvorstellungen des Islam.

Und auch die "Weltvereinigung der Azhar-Absolventen" ("World Association of Al-Azhar Graduates") verurteilte die Organisation als zutiefst un-islamisch und als Teil einer verschwörerischen Allianz, die sich gegen die muslimische Welt richte – ob der IS im Nahen Osten, die Taliban in Asien oder die Boko Haram in Nigeria.

Der un-islamische IS

Nigeria: Regierungsoffensive im Kampf gegen Boko Haram in der Stadt Damasak; Foto: Reuters/Emmanuel Braun
"Den IS als un-islamisch zu bezeichnen, verhindert weder das Entstehen hunderter neuer extremistischer Organisationen, noch verbessert es das Image des Islam und der Muslime. Eine tatsächliche Reform sollte deshalb an den Wurzeln ansetzen", schreibt Hakim Khatib.

In der gesamten arabischen Welt werden die Medien geradezu überschwemmt mit Nachrichten, Erklärungsversuchen und Interpretationen, die alle den "Islamischen Staat" als un-islamisch verdammen. Prominente islamische Wissenschaftler aus vielen Teilen der Welt verurteilten die Aktivitäten des IS und unterstützten die Botschaft, dass der "Islamische Staat" nichts zu tun habe mit den Lehren des Islam, sondern, im Gegenteil, zur Zerstörung des Islam beitrage.

Wenn aber die Mitglieder des "Islamischen Staates" nicht islamisch sind und keine wahren Muslime, was sind sie dann? Alle Parolen der Dschihadisten berufen sich auf den Islam, genau wie auch ihre Glaubensinterpretationen. Auf ihrer Fahne steht: "Es gibt keinen Gott außer Allah und der Prophet Mohammed ist sein Bote".

Der IS könnte die Chance für eine wirkliche Reformation des islamischen Glaubens eröffnen – jenseits aller Verschwörungstheorien und Versuche, eine solche terroristische Organisation aus der Sphäre des Islam auszuschließen. Schließlich kommen die meisten Rekruten des "Islamischen Staates" aus muslimischen, insbesondere aus arabischen Ländern. Sie gingen aus islamischen Gesellschaften und Gemeinschaften hervor und lernten an den Schulen und Universitäten mit den gleichen religiösen Büchern. Sie besuchten die gleichen Moscheen und empfingen die gleichen religiösen Botschaften wie der Rest ihrer Gemeinschaften. Sie könnten die Söhne, Brüder, Väter, Schwester und Mütter der sogenannten moderaten Muslime sein.

Die schockierende Bilder der grausamen Gewaltexzesse und skrupellosen Brutalität der IS-Anhänger sollten die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Problem nicht verstellen: dass der Islam einer grundlegenden Reformation und einer Erneuerung bedarf. Dabei geht es nicht darum, den islamischen Glauben um jeden Preis zu verteidigen, sondern eher um eine schonungslose Kritik.

Daher muss die Reformation des Glaubens schon sehr früh ansetzen – im Bildungssektor, d.h. bereits in der Grundschule, bei religiösen Kinderbüchern, bis hin zur höchsten Form der theologischen Bildung. Eine solche Reformation könnte in den Moscheen beginnen und bei den Freitagsgebeten, um die Toleranz zu stärken und am Frieden zu arbeiten. Eine Reformation könnte auch damit beginnen, dass religiöse Institutionen in der arabischen Welt und in mehrheitlich muslimischen Ländern sich einerseits nicht mehr in die Politik einmischen. Andererseits bedeutet diese Reformation, dass politische Institutionen damit aufhören müssen, die Religion zu instrumentalisieren und religiöse Institutionen zum Zwecke des Machterhalts zu vereinnahmen.

Religionsunterricht in Sharkya, Ägypten; Foto: DW/Reham Mokbel
Bildung stärken gegen die Gefahren des religiösen Extremismus: "muss die Reformation des Glaubens schon sehr früh ansetzen – im Bildungssektor, d.h. bereits in der Grundschule, bei religiösen Kinderbüchern, bis hin zur höchsten Form der theologischen Bildung", so Khatib.

Appell zur Reformation

Der Aufstieg des "Islamischen Staates" sollte ein Weckruf sein für alle Muslime auf der Welt. Muslime, die den IS als un-islamisch bezeichnen und darauf verweisen, dass er nicht den wahren Islam vertrete, können nicht verhindern, dass sich Muslime doch den Dschihadisten anschließen.

Eine Reformation der Religion scheint längst überfällig geworden zu sein. Anderenfalls riskiert die Welt womöglich das Entstehen von Organisationen, die dem "Islamischen Staat" ähnlich sind – ob in naher oder ferner Zukunft. Den IS als un-islamisch zu bezeichnen, ist lediglich eine Geste der Rechtfertigung und hat keinen Bezug zur Realität. Es verhindert weder das Entstehen hunderter weiterer extremistischer Organisationen, noch verbessert es das Image des Islam und der Muslime. Eine tatsächliche Reform sollte deshalb an den Wurzeln ansetzen. Jedwede Quelle sollte einem gründlichen und kritischen Studium unterzogen werden.

Die schockierende Tatsache, dass der "Islamische Staat" einem arabischen Konflikt entsprungen ist und den Islam für politische Zwecke instrumentalisiert, sollte all diejenigen wachrütteln, die noch immer an eine Kongruenz von Staat und Politik glauben. Politik und religiöses Dogma deckungsgleich machen zu wollen, könnte durchaus die Zerstörung einer der beiden Komponenten zur Folge haben. Entweder die Politik dominiert und zerstört die Religion, oder die Religion ist es, die die Politik zerstört.

Im Fall des "Islamischen Staates", beherrscht die Politik die Religion, aber das Hervortreten der Religion dient dem politischen Zweck – Macht, Legitimität und Dominanz. Sich einer solchen Form des Extremismus zu bedienen, isoliert den "Islamischen Staat" vollständig, wird doch auch nicht davor zurückgeschreckt, sich des Völkermordes zu bedienen, um seine Gegner zu beseitigen.

Islamgelehrte sollten sich an die Spitze einer solchen Reformation des islamischen Glaubens stellen – jenseits aller Politik und jenseits der Trennlinie zwischen vermeintlich "richtigem" und "falschem" Glauben. Freilich bedarf es dafür einen Rahmen, um den Grundstein für einen solchen Prozess zu legen. Auch müssen die politischen Führungen der Staaten diesen Prozess sorgsam im Auge behalten. Es ist nicht genug, wenn Muslime lediglich die Terrorakte verurteilen und sie als un-islamisch abkanzeln. Es muss einen wirklichen Wandel vonstatten gehen und er muss jetzt beginnen.

Hakim Khatib

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Hakim Khatib ist Dozent für Journalismus, interkulturelle Kommunikation sowie Politik und Kultur des Nahen Ostens an der Fulda-Universität für Angewandte Wissenschaften und der Phillips-Universität Marburg. Sein Spezialgebiet ist die Integration der Religion in das politische Leben und politische Diskurse im Nahen Osten. Er ist Chefredakteur des Online-Journals "Mashreq Politics and Culture" (MPC Journal).