Weg in die Stagnation?

Im Irak steht zu befürchten, dass das Verfassungskonzept nicht weiterentwickelt wird und damit die von allen politischen Kräften akzeptierte staatliche Dynamik zum Stillstand kommen könnte. Der syrische Rechtswissenschaftler Naseef Naeem erklärt warum.

Irakerin bei der Stimmabgabe zum Verfassungsreferendum am 15.10.2005; Foto: AP
Die mehrheitliche Entscheidung für die neue Verfassung per Referendum im Oktober 2005 wurde mit Euphorie aufgenommen. Doch droht nun der Übergang zu einer klar definierten Verfasstheit des Staates zu scheitern?

​​ Als die Weltöffentlichkeit und ein großer Teil der politischen Eliten des Iraks die Ratifizierung der Verfassung im Oktober 2005 als minimalen Schritt zur Wiederherstellung der Staatlichkeit bejubelten, ahnte niemand, wie lange es noch dauern sollte, bis die Bestimmungen dieser Verfassung ihren endgültigen staatsrechtlichen Charakter erhalten würden.

Denn trotz ihrer dauerhaften Gültigkeit enthält die irakische Verfassung zahlreiche ungelöste Detailfragen. Weil diese sehr komplex sind, wurde ihre Regelung der parlamentarischen Arbeit der politischen Akteure überlassen. Zudem sah Artikel 142 einen Überprüfungsprozess aller Verfassungsbestimmungen durch eine parlamentarische Kommission vor.

Dieser Artikel war im letzten Augenblick zustande gekommen und setzte eine prinzipielle Akzeptanz der Hauptmerkmale der neuen irakischen Verfassungsstaatlichkeit durch die politischen Akteure voraus.

Welche Form der Staatlichkeit für den Irak?

Das irakische Abgeordnetenhaus erfüllte in der Folge nach und nach seine Verfassungsaufträge, indem es Gesetze erließ. Die Überprüfungskommission hat hingegen auch drei Jahre nach der Ratifizierung der Verfassung ihre Arbeit noch nicht beendet.

Dies liegt nicht nur an der schwierigen Lage im Irak: Den Akteuren fehlt eine gemeinsame Vorstellung darüber, welche Form die Staatlichkeit des Irak haben soll und damit die Voraussetzung zur Überarbeitung von Verfassungsvorschriften.

Im Dezember 2005 fanden im Irak Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt. Es dauerte mehr als fünf Monate, bis das Abgeordnetenhaus zu seiner ersten Sitzung zusammentrat. Zwischenzeitig – Anfang Mai 2006 – wurde entschieden, die Gründung der Überprüfungskommission bis nach der Regierungsbildung zu verschieben. Erst nach weiteren zwei Monaten war die Regierung vollständig gebildet. Zu einer Kommissionsgründung kam es allerdings zunächst nicht.

Zähes Ringen um Überprüfungskommission

Erst Ende September 2006 wurde eine Vereinbarung zwischen den parlamentarischen Kräften erreicht, welche die Gründung der Überprüfungskommission vorsah: Die 27 Mitglieder der Kommission sollten paritätisch nach Fraktionsgröße von ihren Fraktionen ernannt und dann vom Abgeordnetenhaus durch einheitliche Abstimmung über alle Namen bestätigt werden.

Unterzeichnung der Verfassung in Bagdad; Foto: AP
Trotz ihrer dauerhaften Gültigkeit enthält die irakische Verfassung zahlreiche ungelöste Detailfragen, meint Naeem.

​​ Zwei Vertreter der Minderheiten kamen später hinzu, um den Angaben des Artikels 142 Absatz 1 hinsichtlich der Vertretung des gesamten irakischen Volkes gerecht zu werden. Zwei Monate später trat die Kommission erstmals zusammen.

Laut Zeitplan sollten ihre Änderungsvorschläge vier Monate später dem Abgeordnetenhaus vorliegen. Das Fristende wurde jedoch an die Sitzungsperiode des Abgeordnetenhauses gekoppelt und auf Mitte Mai 2007 festgesetzt. Der Zeitplan wurde in der Folgezeit weder terminlich noch inhaltlich eingehalten und auch der von der Kommission vorgelegte Bericht für das Abgeordnetenhaus war nicht endgültig.

Der Kommissionsbericht wurde zuletzt in der Sitzung des Abgeordnetenhauses Anfang August 2008 diskutiert. Seitdem halten die Debatten über mögliche Lösungen für die umstrittenen Punkte in der Kommission, dem Abgeordnetenhaus und der Exekutive an, ohne dass bis dato wirkliche Ergebnisse erzielt oder zumindest eine klare Entscheidung bezüglich der Kommissionsarbeit getroffen wurde.

Bundesstaatlichkeit als "permanente Problemzone"

Der letzte Kommissionsbericht macht deutlich, dass hinsichtlich fast aller bundesstaatlicher Merkmale des Iraks – Status der Hauptstadt, Erdöl und -gas, gemeinsame Kompetenzen von Bund und Regionen, Verteilung der Zuständigkeit hinsichtlich der Wasserpolitik, Bestimmung des Vorranges von Bundes- und Regionsgesetzen, Befugnisse des Bundesrates und Lösung der Problematiken der demographischen Änderungen (einschließlich des Kirkuk-Problems) – keine Einigkeit besteht.

So beharren die kurdischen Abgeordneten auf einem Status für Kurdistan, der einer Unabhängigkeit gleich kommt. Erwartungsgemäß wird diese Haltung von anderen politischen Kräften abgelehnt. Die arabischen Sunniten sind bis dato eher Föderalismusskeptiker. Die Schiiten vertreten in diesem Punkt keine einheitliche Position, was den starken innerschiitischen Machtkampf auf Bundesebene widerspiegelt.

In dieser Gemengelage erscheint der fast vergessene "unitarische" Aspekt als unverzichtbares Element für den Erhalt der bundesstaatlichen Ordnung des Iraks. Doch scheinen sämtliche irakische Kräfte mittlerweile vergessen zu haben, dass in der Gründungsphase Kooperation in Form von Politikverpflichtung eine vernünftige Methode zur Entscheidungsfindung auf allen Ebenen darstellt.

Vorbehalte gegen ziviles Personalstatut

Die Art und Weise, wie der Artikel 41 das Recht auf Selbstbestimmung des Personalstatuts regelte, sorgte vor und nach der Ratifizierung der Verfassung für heftige Auseinandersetzungen.

Frauenverbände befürchten die Einschränkung von Frauenrechten durch eine

Symbolbild irakische Flagge und Parlament; Foto: AP/DW
Das irakische Abgeordnetenhaus erfüllte nur sehr schleppend seine Verfassungsaufträge.

​​ausgedehntere Anwendung des islamischen Rechts nach konfessioneller Zugehörigkeit infolge der Aufhebung oder Verringerung der Rolle des zivilen Rechts. Religiöse Minderheiten befürchten, zugunsten des Islams ihre Autonomie bei der Regelung der persönlichen Angelegenheiten zu verlieren.

Ein Blick auf den Wortlaut von Artikel 41 genügt, um festzustellen, dass derartige Bedenken aus verfassungsrechtlicher Sicht unbegründet sind. Denn diese Verfassungsbestimmung gewährt jedem irakischen Staatsbürger die Wahlfreiheit darüber, ob das Personalstatut nach Religions- und Konfessionszugehörigkeit, nach Glaubensrichtung oder aufgrund "freier Wahl" gestaltet ist.

Letztere Formel verpflichtet den Bundesgesetzgeber, das Selbstbestimmungsrecht der Iraker zu verwirklichen, d.h. also die Wahlmöglichkeit zwischen diesen vier Richtungen zu ermöglichen.

Dies beinhaltet auch die Pflicht zur Schaffung eines zivilen Systems, welches die Wahlfreiheit des Personalstatuts außerhalb von Religion und Konfession gewährleisten kann. Genau diese Möglichkeit will ein Änderungsvorschlag der Kommission abschaffen.

Wenn eine solche Änderung vollzogen würde, wäre dies ein herber Rückschlag für die Iraker, die ihr Personalstatut auf keiner religiösen Basis regeln lassen wollen.

Kompetenzgerangel innerhalb der Exekutive

Die Frage der Verteilung der Befugnisse innerhalb der Exekutive knüpft an die Problematik der gewohnheitsgemäßen Machtteilung zwischen den Volksgruppen an. Der kurdische Republikpräsident hat heute gegenüber dem schiitischen Ministerpräsidenten stärker repräsentative Aufgaben. Die Kurden sind mit der Verteilung der Befugnisse innerhalb der Exekutive unzufrieden.

Karte des Irak; Foto: DW/AP
Der irakischen Zentralregierung wird verfassungsrechtlich zu wenig Macht zugestanden, die föderalen Regionen sind wenig an die Bagdader Regierung gebunden.

​​Die Überprüfungskommission erkennt die Aufgabenverteilung – trotz der Betonung der Bedeutung des Republikpräsidentenposten für das irakische Staatssystem – an und begründet sie entsprechend der parlamentarischen Verfassungstheorie dadurch, dass der irakische Republikpräsident nicht unmittelbar vom Volk gewählt wird und damit dessen Position nicht die Stärke eines Staatspräsidenten in einem Präsidentschaftssystem haben soll.

Etliche Vorschläge wurden ausgearbeitet, um dem Republikpräsidenten eine stärkere Position gegenüber dem Ministerpräsidenten einzuräumen.

Die Auffassungen der Kommission sind auch in dieser Frage gespalten: Auf der einen Seite spricht sich die Kommission dafür aus, dass die Befugnisse des Republikpräsidenten zukünftig durch ein Gesetz geregelt werden sollen.

Auf der anderen Seite sollte ihm das Recht auf Beratung und Information im Rahmen aller staatlichen Angelegenheiten gegeben werden und er Oberbefehlshaber der Streitkräfte im Falle des Notstandes oder des Krieges sein.

Hürdenreiche Kompromisssuche

Trotz des stürmischen Verlaufes ihrer Arbeit und der weit voneinander entfernten Positionen versucht die Kommission, ihre Arbeit nach außen hin stets als Erfolg darzustellen.

Naseef Naeem; Foto: privat
Naseef Naeem promovierte über das Thema "Die neue bundesstaatliche Ordnung des Irak" an der Universität Hannover.

​​Dies lässt sich anhand der Äußerungen mehrerer Kommissionsmitglieder ablesen, die ständig über die Einigkeit der Kommission in zahlreichen Sachfragen sprechen und bewusst ausklammern, dass diese Einigung vielmehr Änderungen sprachlicher, formeller oder struktureller Natur sind, man jedoch in den fundamentalen Konfliktpunkten keinen Schritt weiter gekommen ist.

Somit ist zu befürchten, dass sich die Überprüfungskommission wie die Verfassungskommission in hohlen Formeln verliert und die Kompromisssuche auf die lange Bank schiebt. Sie riskiert damit, dass das irakische Verfassungskonzept nicht weiterentwickelt wird und versäumt es, aus den bisherigen Verfassungsbestimmungen eine funktionierende, von allen politischen Kräften akzeptierte staatliche Dynamik zu entwickeln.

Ob die irakische Gesellschaft auch nach den beiden Fehlversuchen der Verfassungs- und der Überprüfungskommission bereit ist, in einem dritten Anlauf den Übergang zu einer klar definierten Verfasstheit des Staates zu wagen, ist daher mehr als fraglich.

Naseef Naeem

© Qantara.de 2009

Dr. jur. Naseef Naeem hat 2007 über das Thema "Die neue bundesstaatliche Ordnung des Irak" an der juristischen Fakultät der Universität Hannover promoviert. Die Dissertation erschien 2008 in der Reihe "Leipziger Beiträge zur Orientforschung" im Peter Lang Verlag. Naeem habilitiert gegenwärtig an der Universität Göttingen und erteilt an der Freien Universität in Berlin Lehrveranstaltungen über die staatliche Verfasstheit islamisch geprägter Länder.

Qantara.de

Buchtipp: "Die neue bundesstaatliche Ordnung des Irak"
Föderalismus als Königsweg
Der syrische Rechtswissenschaftler Naseef Naeem hat eine detaillierte Studie vorgelegt, die die Entstehung, Konstituierung und Konsolidierung der neuen irakischen Verfassung unter die Lupe nimmt. Sie liefert zudem eine gute gesellschaftspolitische Einordnung des Nachkriegsiraks. Sebastian Sons stellt die Studie vor.

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