Im Griff der Dschihadisten

Die jahrelange Marginalisierung der Sunniten durch die Zentralregierung in Bagdad rächt sich heute. Ganz offensichtlich können sich die ISIS-Kämpfer bei ihrem Vormarsch auch darauf verlassen, dass ihnen ehemalige sunnitische Offiziere aus der Saddam-Ära helfend unter die Arme greifen. Von Karim El-Gawhary

Von Karim El-Gawhary

Es hat nur ein paar Tage gedauert und doch ist nichts im Irak mehr wie zuvor, mit weitreichenden Konsequenzen für die nahöstliche Nachbarschaft. Mossul ist nach nur wenigen Tagen sporadischer Gefechte in die Hände der radikalen Islamisten der ISIS gefallen – eine Stadt größer als Wien, München oder Hamburg. Zwei Armeedivisionen von 30.000 Mann sind zusammengebrochen und haben die Stadt fast kampflos den höchstens 3.000 ISIS-Kämpfern überlassen.

Der ISIS Erfolg bei einem derartigen Zahlenverhältnis lässt sich nur als Ergebnis einer jahrelangen Entfremdung der Sunniten von der Zentralregierung in Bagdad erklären, die von Premier Nouri al-Maliki sowie anderen radikalen schiitischen Parteien geführt wird. Die Sunniten, einst unter Saddam die Elite des Landes, sind im politischen System des heutigen Irak vollkommen außen vor gelassen. Friedliche Proteste der Sunniten mit der Forderung, diese Ausgrenzung zu ändern, wurden sträflich ignoriert.

Kopf in den Sand

Al-Maliki hatte Angst, den Sunniten auch nur einen Finger zu reichen, da er befürchtete, sie nähmen mit Bagdad die ganze Hand. Selbst als sich die Sunniten wieder mit Waffengewalt zurückmeldeten und eine Anschlagsserie einsetzte, die allein im Mai 900 Menschen tötete, glaubte al-Maliki in Bagdad immer noch, den Kopf weiter in den Sand stecken zu können.

Iraks Premier Nouri al-Maliki; Foto: AP
Am Abgrund: "Nouri al-Maliki ist durch die Ereignisse der letzten Tagen ernsthaft angezählt. Angesichts des Vormarsches der ISIS-Kämpfer muss ein zukünftiger Kandidat für die Ära nach Maliki gefunden werden, der seine Hand auch wieder politisch in Richtung der Sunniten ausstrecken kann", meint Karim El-Gawhary.

Dass die ISIS-Kämpfer in den sunnitischen Gebieten teils mit offenen Armen aufgenommen wurden, hat viel mit der politischen Marginalisierung der Sunniten im Irak zu tun. Ganz offensichtlich konnten sich die ISIS-Kämpfer auch darauf verlassen, dass – trotz aller ideologischen Unterschiede – die sunnitischen Ex-Offiziere der einstigen Saddam-Armee ihnen helfend unter die Arme greifen.

Vielleicht sogar mehr als das. Manche der militärischen Bewegungen der ISIS-Kämpfer erinnern eher an eine stabsmäßig geplante Militäroffensive, als an das Vorrücken einer Rebellenarmee und tragen die Handschrift ehemaliger Armeeoffiziere Saddams. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass dies ausgerechnet in Mossul geschehen ist. Die Stadt war stets das Hauptrekrutierungsgebiet für die Offiziere der Saddam-Armee.

Insofern sind die gegenwärtigen Ereignisse auch die Konsequenz der damaligen Entscheidung der US-Invasoren, die Saddam-Armee aufzulösen. Was macht eine Stadt voller arbeitsloser, politisch marginalisierter, aber gutausgebildeter Armeeoffiziere, wenn die verhasste, von Schiiten dominierte neue Armee herausgefordert wird?

Wer füllt das Sicherheitsvakuum?

Mit dem de facto Zusammenbruch der regulären Armee stellt sich die Frage, wer nun das entstandene Sicherheitsvakuum ausfüllen kann? Wer wird sich im Irak überhaupt noch den ISIS-Kämpfern effektiv entgegenstellen? Dafür kommen nur zwei Kräfte in Frage: die kurdischen Peschmerga-Kämpfer und die schiitische Milizen. Einer der Peschmerga-Sprecher, Brigadegeneral Halgord Hekmat, hat bereits öffentlich erklärt, dass der Kollaps der irakischen Armee die kurdischen Kämpfer praktisch dazu zwingt aktiv zu werden.

Und auch der in politischer Versenkung geglaubte Schiitenprediger Muqtada al-Sadr, kündigte an, angesichts der Schwäche der Armee wieder seine berüchtigten Milizen mobilisieren zu wollen. Damit wäre der Irak den alten Bürgerkriegszeiten und der Drohung der Dreiteilung des Landes wieder gefährlich nahe gekommen.

Es gibt zwei Entwicklungen auf die nun ein Auge geworfen muss. Die erste betrifft die Zentralregierung in Bagdad: Dort ist Nouri al-Maliki durch die Ereignisse der letzten Tagen ernsthaft angezählt. Sieht man den Vormarsch der ISIS-Kämpfer, der praktisch mit einem sunnitischen Aufstand gegen Bagdad verschmolzen ist, und erkennt man das Ganze nicht nur als eine Aufgabe der Sicherheitskräfte, sondern als politische Herausforderung an, muss ein zukünftiger Kandidat nach der Ära al-Maliki gefunden werden, der seine Hand auch wieder politisch in Richtung der Sunniten ausstrecken kann. Das wäre die beste ISIS-Bekämpfung, wenn es dafür allerdings nicht schon zu spät ist.

Ideologische Bruchlinien

Das zweite Augenmerk muss den Sunniten selbst gelten. Die Zusammenarbeit zwischen radikalen islamistischen ISIS-Kämpfern und den Ex-Armee-Offizieren hat sich jetzt als ein Erfolgsrezept erwiesen, und macht die Stärke des militärischen Vormarsches aus. Sie eint der Wunsch nach einem Erstarken der Sunniten im Irak.

Aber während den einen erklärtermaßen ein islamisches Kalifat vorschwebt, entstammen die andern dem Gedankengut des säkularen arabischen Nationalismus. Hier sind die Bruchlinien vorgezeichnet. Überdeckt werden dürften diese allerdings dadurch dass ISIS nun Unmengen an Waffen und auch an Geld erbeutet hat. Alleine in Mossul sollen sie Banknoten im Wert 480 Millionen Dollar erbeutet haben. Besonders bei den sunnitischen Stammesführern außerhalb der Städte, dürften sich diesbezüglich Loyalitäten wohl erkaufen lassen. Sie werden voraussichtlich ohnehin pragmatisch reagieren und sich dem Stärkeren anschließen. Und dieser Stärkere ist aus ihrer Sicht im Moment sicherlich nicht die Zentralregierung in Bagdad, die sie ohnehin jahrelang in der Luft hat hängen lassen.

US-Präsident Barack Obama; Foto: AP
Zeit zum Handeln? Angesichts des Islamisten-Vormarschs hat US-Präsident Obama der irakischen Regierung seine Unterstützung zugesichert. "Ich schließe nichts aus", betonte er mit Blick auf Forderungen nach einem militärischen Eingreifen.

Es bleibt die Frage, wie sich die neu gemischten Karten im Irak auf die Nachbarschaft auswirken werden? Die Türkei dürfte alles andere als glücklich über den Vormarsch der ISIS-Kämpfer in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft sein. Genauso wenig dürfte die Türkei begeistert sein, wenn die kurdischen Peschmerga nun das Sicherheitsvakuum zu füllen suchen und gegen ISIS vorgehen. Denn am Ende dürften die Kurden für diesen Dienst von der Zentralregierung in Bagdad einen Preis verlangen, der sie stärken und damit die Türkei beunruhigen dürfte.

Der Iran gehört, neben den USA, zu den großen Verlierern der jüngsten Ereignisse im Irak. Entweder etabliert sich in Bagdad eine Regierung, die auch einen Ausgleich mit den Sunniten sucht, und dass wäre keine iranische Marionette, wie die heutige Maliki-Regierung. Oder Teheran hält die Zügel in Bagdad fest in der Hand und nimmt damit in Kauf, dass der Irak weiter auseinanderbricht und damit der iranische Einfluss geographisch schwinden wird, weil er sich dann nur auf die schiitischen Gebiete beschränkt.

Paradoxerweise könnte der ISIS-Vormarsch sogar das amerikanisch-iranische Verhältnis verändern – schließlich sitzen sowohl Washington als auch Teheran in Hinblick auf ISIS in einem Boot. Dagegen bleiben die Widersprüche beider Staaten in Syrien weiter bestehen, wo einer die Rebellen, der andere das Assad-Regime unterstützt.

Aber vielleicht ist der ISIS-Vormarsch im Irak am Ende auch ein Weckruf, um sich von amerikanischer, türkischer und iranischer Seite zur Beendigung des syrischen Bürgerkrieges zusammenzuraufen. Dann könnte man den jüngsten Ereignissen im Irak am Ende gar etwas Positives abgewinnen. Die radikalen Islamisten haben allen Seiten klar gemacht, dass es so nicht weitergehen kann.

Karim El-Gawhary

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de