''Die Unterordnung der arabischen Welt könnte enden''

Der amerikanische Historiker Eugene Rogan hat mit seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Die Araber" ein neues Standardwerk zur Geschichte der arabischen Welt geschrieben. Darin zeigt er vor allem die Folgen der ausländischen Dominanz in der Region auf. Jan Kuhlmann hat sich mit dem Autor unterhalten.

Von Jan Kuhlmann

Was hat Sie motiviert, ein solch umfassendes Buch über die arabische Geschichte zu schreiben?

Eugene Rogan: Als ich das Buch schrieb, beschäftigten mich die Folgen des 11. Septembers und die neokonservative amerikanische Regierung unter George W. Bush, die die Region so sehr unter Druck setzte, dass ich die Meinung vertrete, die arabische Welt erlebte in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts das schlimmste Jahrzehnt ihrer Geschichte. Es schien mir, dass die Menschen im Westen überhaupt nichts von diesem Druck wussten, unter dem die arabische Welt litt, und dass es wichtig wäre, das gegenseitige Missverstehen zwischen der arabischen Welt und dem Westen zu überbrücken, indem ich die moderne arabische Geschichte so vermittle, wie sie mit arabischen Augen gesehen wird.

Hätten Sie mit dem "Arabischen Frühling" in der Region gerechnet, als Sie das Buch schrieben?

Rogan: Wie alle meine Kollegen wurde ich völlig davon überrascht, dass durch gewaltfreies Handeln von Bürgern solch tief verwurzelte Regierungen gestürzt werden konnten. Die englische Version meines Buches kam 2009 auf den Markt. In meinem Fazit erwähne ich die Rede von Barack Obama in Kairo. Man hatte den Eindruck, dass zumindest die mächtigste Kraft dieser Zeit anfing, ihre Politik in der Region zu ändern. Aber ich schrieb am Ende, dass die Araber selbst die Initiative ergreifen müssten, wenn sie ihr Potential nutzen, wenn sie verantwortliche Regierungen, politische Rechte, Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung haben wollten. Und genau das haben wir im Jahr 2011 erlebt.

Welche Bedeutung hat 2011 langfristig betrachtet?

Rogan: Als ich das Buch schrieb, war bereits klar, dass mehr nötig wäre als guter Wille der großen Mächte, wenn die arabische Welt den Tiefpunkt ihrer modernen Geschichte hinter sich lassen wollte. Es brauchte eine gemeinsame Anstrengung der Araber. Ich glaube, 2011 markiert das Ende des schlimmsten Jahrzehnts in der Geschichte. Es beginnt 2001 mit den Angriffen vom 11. September und endet 2011 mit den Revolutionen in der Region. Wir erleben, wie die ganze arabische Welt einen Wendepunkt erreicht, den ich als Historiker für eines der Daten halte, über das wir sagen: vor 2011 und nach 2011. Die Region ist nicht mehr dieselbe und wird nicht mehr dieselbe sein.

Ihr Buch handelt von der Dominanz ausländischer Mächte in der arabischen Welt, die um 1500 mit den Osmanen begann. Ist es denkbar, dass auch diese viel längere Periode mit dem Jahr 2011 zu Ende geht?

Rogan: Die Unterordnung der arabischen Welt unter die Regeln der auswärtigen Mächte könnte enden. Eine der Thesen des Buches lautet, dass sich die moderne Geschichte der Araber in den vergangenen fünf Jahrhunderten größtenteils nach den Regeln der dominanten Mächte der jeweiligen Zeit abspielte. Im Jahr 2011 haben wir erlebt, wie die Bürger in der arabischen Welt die Initiative ergriffen, ohne dass die großen Mächte beteiligt waren.

Demonstranten gegen das Mubarak-Regime auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: dpa
Paukenschlag der Revolution: Für den in Oxford lehrenden Historiker Eugene Rogan bedeutet das Jahr 2011 die Wiederkehr einer arabischen politischen Identität als maßgeblicher Faktor, wie man es seit dem Höhepunkt des arabischen Nationalismus nicht mehr gesehen hat.

​​Die Region hat für einen Moment ihre Verbundenheit mit dem Rest der Welt ausgesetzt und sich nur auf die Innenpolitik konzentriert. Dabei haben die Araber Regeln geschaffen, die die Menschen in anderen Ländern nun kopieren. Der Demonstrant war ein globales Phänomen, nicht nur ein arabisches. Die Araber empfinden einen neuen Stolz, dass sie eine globale Bewegung anführen, die gegen verantwortungslose Regierungen und Ungleichheit protestiert.

Die mit Ausnahme Libyens relative Ineffektivität der USA und Europas zeigt, dass man damit aufhört, die moderne Geschichte nach den Regeln von jemand anderem zu leben. Im Jahr 2011 hat die arabische Welt die Initiative zurück gewonnen, selbst die Regeln aufzustellen. Das ist es, was sich geändert haben könnte.

Der Historiker Albert Hourani war einer Ihrer Vorgänger am St. Anthony's College in Oxford. Er hat die berühmte "Geschichte der arabischen Völker" geschrieben. Wir sehr hat er Ihre Arbeit beeinflusst?

Rogan: Albert Hourani war mit Sicherheit der größte Nahosthistoriker, den ich jemals gekannt habe. Er war immer ein Vorbild und ein Mentor für mich. Als ich 1991 auf meinen Posten in Oxford berufen wurde, lebte Albert noch und kam jede Woche nach Oxford. Jeden Donnerstag konnten wir uns treffen und miteinander reden. In diesen Gesprächen habe ich sehr viel über mein Handwerk als Historiker gelernt. Sein Buch war der letzte große Überblick über die arabische Geschichte. Und ich wollte ein Buch schreiben, das ein Begleiter zu seinem sein soll.

Inwiefern?

Rogan: Obwohl er sich selbst als Historiker mit der neuesten Zeit beschäftigte, widmete er drei Viertel seines Buch der Geschichte davor. Viele Menschen, die sein Buch gelesen haben, waren enttäuscht, dass er der Gegenwart nicht mehr Raum gab. Ich sah das Potential, eine Geschichte der neuesten Zeit zu schreiben, die erweitern würde, was er behandelt hatte. Die beiden Bücher passen meiner Meinung nach gut zusammen. Alberts Buch ist vor allem ein Buch für Wissenschaftler. Viele Menschen ohne Hintergrundwissen über die Region tun sich schwer damit, es zu lesen. Ich war der Ansicht, dass es nützlich wäre, ein Buch zu schreiben, das für den normalen Leser zugänglicher ist.

Das bedeutete, dass ich in einem ganz anderen Tonfall als Albert schreiben musste. Ich habe mich vielmehr um einen erzählerischen Stil bemüht. Mein Buch ist fast wie ein Kinofilm. Man hat den Eindruck, als könne man sehen, wie sich die Kamera über eine dramatische Landschaft bewegt, in der reiche und mannigfaltige Charaktere leben.

In der arabischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sehen Sie den arabischen Nationalismus als eine der treibenden Kräfte. Ist seine Zeit endgültig vorüber?

Rogan: Wir hätten den arabischen Nationalismus am Ende des 20. Jahrhunderts als nicht länger relevant abgetan. Aber das Jahr 2011 hat gezeigt, wie wichtig die arabische Erfahrung ist, die durch die arabische Sprache und die Religion der Muslime bestimmt wird. Die Tatsache, dass Ereignisse in Tunesien das Handeln der Araber in Ägypten, im Mittleren Osten und auf der Arabischen Halbinsel inspirieren konnten, zeigt uns, dass es eine kulturelle und politische Gemeinschaft der Araber gibt, die viel stärker miteinander verbunden sind als mit den Menschen irgendwo anders.

Tunesier begehen den ersten Jahrestag der Revolution in der Habib Bourguiba Avenue in Tunis, Foto: dpa
Neues arabisches Selbstbewusstsein: "Die Araber empfinden einen neuen Stolz, dass sie eine globale Bewegung anführen, die gegen verantwortungslose Regierungen und Ungleichheit protestiert", so Eugene Rogan.

​​Für mich bedeutete das Jahr 2011 die Wiederkehr einer arabischen politischen Identität als maßgeblicher Faktor, wie wir es seit dem Höhepunkt des arabischen Nationalismus nicht mehr gesehen haben. Ich würde sagen, dass die arabische politische Identität noch immer eine Kraft ist, mit der gerechnet werden muss.

Sie identifizieren den Islam als eine weitere große treibende Kraft in der neuesten arabischen Geschichte. Die Islamisten scheinen nach 2011 die stärkste Macht zu sein. Wie sollte der Westen mit ihnen umgehen?

Rogan: Die USA und Europa müssen sich mit der neuen politischen Ordnung arrangieren, die von islamischen Akteuren bestimmt wird, die behaupten, sehr vom Beispiel der Türkei inspiriert zu sein; und die nun die Gelegenheit sehen, die politische Ordnung neu zu formen, um Freiheiten zu geben und um Werte, Kulturen und Traditionen in ihren Ländern zu respektieren.

Es ist unwahrscheinlich, dass das in der arabischen Welt eine Demokratie bedeutet, wie sie in Großbritannien oder in Amerika praktiziert wird. Aber das war niemals die Grundlage, auf der westliche Mächte ihre Beziehungen mit den Staaten in der Region gestaltet haben. Sie müssen der Versuchung widerstehen, die Politik der Region formen zu wollen, liberale Parteien gegenüber islamistischen zu bevorzugen und die Muslimbrüder in Ägypten oder die Ennahda in Tunesien zu benachteiligen. All das würde nur nach hinten losgehen und mehr Rückhalt für islamistische Akteure und mehr Feindlichkeit gegenüber dem Westen erzeugen.

Wie sehen Sie die nahe Zukunft der arabischen Welt?

Rogan: Ich bin sehr optimistisch, aber ich möchte auch nicht unrealistisch sein. Ich kenne die Gefahren, die die neuen freien Araber bedrohen. Doch was sie hinter sich gelassen haben war so schlimm, dass das, was vor ihnen liegt, in jedem Fall besser sein wird. Die Menschen haben wieder einen Sinn für ihre Freiheiten und sie haben ihre Würde zurück gewonnen. Die Demonstranten fühlen sich wie noch nie in ihrem Leben als freie Männer und Frauen. Das ist eine Kraft, die bleibt.

Interview: Jan Kuhlmann

© Qantara.de 2012

Eugene Rogan: Die Araber. Eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbruch. Propyläen Verlag, Berlin 2012 ,736 Seiten

Eugene Rogan, geboren 1960, ist Direktor des renommierten Middle East Centre der Oxford University. Dort lehrt und erforscht der amerikanische Historiker seit 1991 die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de