Die Widersprüche der islamischen Welt

Tariq Ramadan, Professor für Islamstudien an der Schweizer Universität Fribourg, fordert die Muslime auf, auch ihre eigenen Positionen zu hinterfragen, anstatt die Verantwortung für ihre Misere in erster Linie dem Westen zuzuschieben.

Seit fast einem Jahrhundert scheint die arabische Welt erstarrt zu sein, unbeweglich; ein Zustand, der sich sowohl auf ihre Schwächen wie ihre inneren Brüche zurückführen lässt. Keine andere Region der Welt ist so gefangen in ihren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten. Von Marokko bis Saudi-Arabien (und darüber hinaus) ist es fast unmöglich, auch nur ein Land zu finden, in dem sich eine wahrhaft freie politische Meinung artikulieren kann, in dem ein allgemeiner Wohlstand für die Mehrheit von Männern und Frauen herrscht und in dem Analphabetismus eher die Ausnahme als die Regel ist.

Und es gibt keinen Silberstreif am Horizont: Diktaturen pflanzen sich fort und werden zu Dynastien (ob monarchisch oder republikanisch), während sich die wirtschaftliche Situation für einen Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert. Eine traurige Realität, ein trauriges Los.

Wer sich als Opfer sieht, wird Opfer bleiben

Angesichts dieser Wirklichkeit ist die Versuchung groß, die Schuld für das eigene Versagen beim Anderen zu suchen, bei den Ausbeutern, den Reichen, dem Westen. Und in der gesamten arabischen und islamischen Welt scheint kein Argument zu weit hergeholt, um den Zustand in dieser Weise zu "erklären". Das Erbe des Kolonialismus und neuere Formen wirtschaftlicher Kontrolle, überkommene politische Konflikte und der Kulturimperialismus unserer Zeit, Regierungen und multinationale Unternehmen, die der islamischen Welt ihren Willen von ihren westlichen Firmensitzen aus aufdrängen - alles wird bemüht, um eine einzige Botschaft zu verkünden: Muslime leiden unter einer vielfältigen Form von Unterdrückung.

Natürlich ist die Politik, die ihnen von Seiten der industrialisierten Welt aufgezwungen wird, die Deregulierung durch die internationalen Institutionen, wie IMF, Weltbank oder WTO, und auch die mörderische Gefräßigkeit der multinationalen Konzerne der Ersten Welt zu kritisieren und anzuklagen. Doch jede eigene Verantwortung immer wieder abzulehnen und sich in die eigene Opferrolle zurückzuziehen, was mittlerweile in der arabischen Welt zur Norm geworden ist, ist auf Dauer einfach nicht überzeugend.

Es scheint, als ob das ständige Beschwören des dämonischen "Anderen", des "Westens, der uns unterdrückt und hasst", das einzige emotionale und intellektuelle Ventil ist, dass es den Menschen ermöglicht, ihre Lage zu akzeptieren und zu rechtfertigen. Ohne Zweifel liegt der Schlüssel zur Passivität und zum Rückzug, die die islamische Welt kennzeichnen, in der Analyse eben dieser Haltung.

Keine neuen Strategien in der islamischen Welt

Die Kolonialzeit sah das Entstehen zahlreicher Widerstandsbewegungen, die sich der fremden Besatzung entgegenstellten. Während Einige nur nationalistische Ideale propagierten, suchten Andere den Schulterschluss mit internationalen Bewegungen, mit dem Sozialismus oder Kommunismus oder glaubten, ihr Heil einzig im Islam zu finden. Die täglich erfahrene Dominanz des Westens führte dazu, dass die Beweggründe und Ziele jedes Widerstandes offenkundig wurden: in welcher Weise auch immer, ob in Algerien, Tunesien, Ägypten oder Syrien – man strebte nach politischer Freiheit.

Doch in den letzten 50 Jahren änderte sich die Situation substantiell und ohne dass, wie man zugeben muss, die Oppositionsbewegungen oder die Bevölkerung ihre Analyse erneuert oder ihre Strategien gegen Diktatur und wirtschaftlichen Niedergang neu formuliert hätten.

Natürlich ist die Unterdrückung entsetzlich und der marode Zustand der Wirtschaft augenfällig, doch rechtfertigt dies alles nicht die Passivität, Resignation und das Fehlen jeder gangbaren Alternative: Eine Option außerhalb des Dilemmas aus gewaltsamer Opposition - wie bei den radikalen islamischen Gruppen - auf der einen, und einer Unterwerfung unter die Regeln, die der Westen aufstellt, ihre Finanzinstitutionen und multinationalen Konzerne - mit ihrem verwässerten Konzept einer "sozialen Demokratie" - auf der anderen Seite, scheint unvorstellbar zu sein.

Unfähig, die Kräfte zu bündeln

Noch ernster aber sind die Brüche zwischen den verschiedenen Oppositionsbewegungen, die es den Mächtigen so leicht machen, sie auszuhebeln. Die Widerstandsbewegungen, ob sie nun im Namen des Sozialismus kämpfen, in dem des Kommunismus, oder sich auf den Islam berufen, sind bis heute nicht in der Lage, ihren Kampf als Mittel zur Durchsetzung eines gemeinsamen Kanons fundamentaler Werte anzusehen: als Kampf für Bürgerrechte oder auch nur als Kampf für eine kulturelle Identität, die ihnen allen gemein ist.

Das Fehlen jeder Art von Dialog zwischen den Führern der Widerstandsbewegungen und das gebetsmühlenartige Wiederholen der immer gleichen ideologischen Floskeln verhindert die Entwicklung und die Erneuerung kritischen Denkens in der arabischen und islamischen Welt.

Politische Projekte werden schmerzlich vermisst, die Strategien des Widerstandes sind konfus, die Debatten von veralteten Denkmustern und Klischees geprägt. Hinzu kommt ein augenscheinlicher Mangel an der Vermittlung und dem Verständnis der westlichen Welt mit ihren eigenen Problemen und Ängsten. Dies alles führt zu einer Zersplitterung der arabischen Welt und zu ihrer Isolation sowohl in Bezug auf ihre Probleme wie auf ihre Chancen. Die Verantwortung hierfür aber liegt eindeutig und unbestreitbar bei ihren politischen Klassen und Intellektuellen.

Das Palästinaproblem dient oft als Alibi

Verfolgt man aufmerksam die herrschende Meinung in der arabischen Gesellschaft, wird eines schnell klar: Die Wurzel allen Übels ist "Israel". Seit der Schaffung eines zionistischen Staates, so denken die meisten, gibt es nur Krieg, Teilung, Leiden und Sterben, und dies alles einzig auf Seiten der Palästinenser. Die bedingungslose Treue der USA zu Israel und der fehlende politische Mut der EU, sich diesem Bündnis entgegenzustellen, bestimmen das Bild, das sich die meisten Araber vom Verhältnis zwischen ihnen und dem Westen machen. Ein Verhältnis, das sich für sie auf Dominanzstreben, Einflussnahme, Abwehr und Hass gründet.

Auch wenn eingeräumt werden muss, dass die Palästinenserfrage ein Kernproblem darstellt (sowohl für den Nahen Osten wie für die gesamte islamische Welt), darf es keinesfalls als Alibi dienen. Die Unterdrückung des palästinensischen Volkes, ohne Land und eigenen Staat, sowie die Arroganz mehrerer aufeinander folgender israelischer Regierungen, die eine brutale Besatzungspolitik verfolgen - ob mit Hilfe der Siedler oder in Form von hochgerüsteten Streitkräften - führen dazu, dass die politischen Funktionsstörungen innerhalb der arabischen Welt immer offenkundiger werden, während die Gründe für eben diese Störungen in Vergessenheit zu geraten drohen.

Kein wirkliches Interesse am Leid der Palästinenser

Das Schauspiel, das uns die in ihrer Mehrzahl autokratischen Führer der arabischen Welt bieten, ist absurdes Theater und ein lächerliches dazu: entzweit bis zum Äußersten, machtverliebt, willige Diener des westlichen Kapitals, dabei doch nur Bauern in deren Spiel, blind gegenüber dem Leiden der eigenen Völker und, im Grunde ihres Herzens, gleichgültig und opportunistisch gegenüber dem Los der Palästinenser.

Und die Völker selbst bleiben gefangen in dem schier unüberwindlichen Teufelskreis, den das Palästinenserproblem darstellt: Nach jeder ernsten Krise, am Tag nach einem neuen Massaker, lassen sie sich von einem neuen Gefühlsausbruch bewegen, doch nur für kurze Zeit und ohne dass irgendeine ernsthafte Idee für eine Veränderung zu erkennen wäre.

Zu wenige politische Visionen

Sie scheinen damit zufrieden, die Straßen zu kontrollieren und ihre Leidenschaft zu artikulieren, denn keine umfassende Vision einer Reform, kein regionales Projekt und keine populäre nationale oder internationale Bewegung vermag ihre vertraute politische Basis aufzubrechen. Von Sabra bis Shatila und Jenin: so viele Emotionen und so wenig politische Visionen. Wie lange noch wollen wir in diesem Zustand verharren?

Das Palästinenserproblem aber muss als Teil des Gesamtproblems gesehen werden. Es steht für den Wunsch nach nationaler Befreiung, symbolisiert den berechtigten Anspruch auf politische Unabhängigkeit und bleibt das Muster für das Engagement und die Forderungen arabischer Widerstandsbewegungen. Warum aber hört man so gut wie nichts über die ökonomischen Bedingungen, die Logik neoliberaler Globalisierung oder die Möglichkeiten, multidimensionale und transnationale Formen des Widerstandes zu entwickeln?

Von nationalen Gegebenheiten genährt, mündet der kulturelle Widerstand einzig im Wunsch nach Anderssein. Konfrontiert mit einer Globalisierung, die diese Differenz auszulöschen droht, scheint die arabisch-islamische Welt einzig von der Hoffnung getragen, eine politische und kulturelle Unabhängigkeit zu bewahren, die ihre Besonderheiten (Islam, Kulturen, Sprachen usw.) intakt lässt. Doch schon die Äußerung dieser Hoffnung verrät das Fehlen jeden Verständnisses für die Zeitfragen, die tatsächlich zu verhandeln wären.

Der Islam hat keine universelle Perspektive

Das Fehlen einer Vision, einer Idee, wie eine globale Veränderung herbeizuführen sein könnte, ist gleichzeitig Ursache wie Folge eines sehr begrenzten Verständnisses dessen, was Widerstand bedeutet, und auch davon, dass der Islam seinen universellen Anspruch aufgegeben hat. Es ist ein wahres Paradox und zu einem wahren Teufelskreis geworden: Nach wie vor bildet der Islam in den Augen der Gläubigen einen universellen Bezugspunkt, indem er nicht als exklusiv dargestellt wird und jeden Einzelnen einlädt oder auch zwingt, Unterschiedlichkeit anzuerkennen und an ihr zu wachsen.

Gleichzeitig aber führt das Gefühl, beherrscht zu werden und isoliert zu sein, die Mehrheit der Muslime dazu, sich einzig auf ihr Anderssein zurückzuziehen. Sie sind unfähig, ihre - eigentlich doch universellen - Prinzipien in ein Verhältnis zum Rest der Welt zu bringen, das es ihnen ermöglichen würde, Brücken zu bauen und eine Partnerschaft mit dem "Anderen" zu konstruieren. Doch nur so könnte es gelingen, gemeinsame Grundwerte in den Vordergrund zu rücken, und dies gerade aus Respekt vor ihrer Unterschiedlichkeit.

Auseinandersetzung mit dem Westen gefordert

Dieser Werte gibt es viele, und selbst wenn ihre Quellen - die Offenbarung oder die Vernunft - oder ihr Ausdruck, ausgehend vom Primat der Verpflichtung oder dem des Rechts, unterschiedlich sein mögen, sollte dies nicht die Verweigerung eines Dialoges und einer Partnerschaft rechtfertigen.

Genau diese Verweigerungshaltung ist es nämlich, die die Neigung verstärkt, sich ausschließlich in Abgrenzung zum "Anderen" zu definieren. Sich nur hinter einem vorgeblichen Dominanzstreben dieses "Anderen" zu verstecken, führt zwangsläufig zum Verrat aller universalistischen Prinzipien des Islam und in die Isolation.

Die kurzfristige Folge, die diese Haltung mit sich bringt, ist das Zerrbild, das vom Anderen gemacht wird. Man kann nicht oft genug wiederholen, wie oberflächlich, widersprüchlich und entstellt die islamische Sicht des Westens ist. Selten wird zwischen Regierungen, Völkern und Institutionen unterschieden; die Legitimität westlicher Werte wird in Abrede gestellt, indem man auf deren inkonsistenten und heuchlerischen Gebrauch verweist; und, als Ergebnis einer viel zu simplen Kritik und mit dem Hinweis auf das angebliche Dominanzstreben westlicher Kultur, schließlich in ihrer Gesamtheit abgewehrt.

Gleichzeitige Ablehnung und Faszination des Westens

Paradox hieran ist der Umstand, wie sehr sich, trotz ihrer theoretischen Verteufelung des westlichen Lebensstils, die islamische Welt im Alltag, tagtäglich, von ihm faszinieren lässt. Ein Widerspruch, wie er nicht erhellender sein könnte, versinnbildlicht er doch geradezu die Krise, in der die islamische Welt heute gefangen ist. Unfähig, sich anders als das bloße Gegenbild eines westlichen Popanzes zu sehen, müssen die Muslime in der ewigen Schuld leben, ihre Prinzipien immer wieder zu verraten, je mehr sie sich dem westlichen Lebensstil anpassen. Kann es klarere Anzeichen für eine tiefe Entfremdung geben?

Wir können die Schwierigkeiten, denen sich die islamische Welt heute gegenüber sieht, besser verstehen, wenn wir versuchen, uns über uns selbst klar zu werden und uns selbst besser mitzuteilen. Hierin liegt die heutige Herausforderung: unsere Werte zu erklären, unsere Wünsche und unsere Hoffnungen. Entweder halten wir am Kern unseres gemeinsamen Wertesystems fest und vermitteln den Eindruck, es immer aufs Neue zu verleugnen; oder wir finden uns mit unserer Unterschiedlichkeit und mit der Möglichkeit unvermeidlicher Konflikte ab, die daraus entstehen und entwickeln, darauf gründend, eine Kultur der Differenz.

Die meisten Muslime heute aber scheinen nicht in der Lage zu sein, sich selbst treu zu bleiben, sich mit anderen auszutauschen und dabei gleichzeitig ein "Wir-Gefühl" zu entwickeln. Das Problem ist tief greifend und seine Ursachen lassen sich bis zu dem Zeitpunkt zurückverfolgen, als der innerislamische Dialog endete.

Selbstkritik wird als Verrat angesehen

Nicht nur innerhalb der islamischen Rechtsschulen, auch die Denkströmungen außerhalb, die Ulama, also muslimische Gelehrte, und die Intellektuellen, alle scheinen sie das Debattieren praktisch aufgegeben zu haben. So kommen wir nie über die Diskussion hinaus, welche Ideen mit dem Islam noch zu vereinbaren sind. Diese nervöse, bereits im Keim erstickte intellektuelle Ihre Meinung:
Glauben Sie, die islamische Welt muss einen Prozess der Selbstkritik beginnen, um ihre eigene Position zu stärken? Schreiben Sie uns!
Diskussion führt zwangsläufig dazu, jeder Selbstkritik zu entsagen, würde eine solche doch als Verrat gelten. Die Logik bleibt die gleiche: Die Gültigkeit der Werte des "Anderen" anzuerkennen ist gleichbedeutend mit der Untreue den eigenen gegenüber. Solange sie es nicht schaffen, dieser schädlichen Logik zu entfliehen, wird es den Muslimen nicht gelingen, die Energie für die nötigen Reformen und Erneuerungen aufzubringen.

Selbstkritik wäre der erste wichtige Schritt. Diese müsste zum Beispiel die Kritik an so genannten islamischen Staaten beinhalten, die Abgrenzung von den Handlungen gewisser radikaler oder einfach nur dummer muslimischer Gruppen, das Eingeständnis von Schwächen innerhalb der heutigen islamischen Denkschulen wie auch ihre unannehmbare Tendenz zur Diskriminierung (von Armen, Frauen, bestimmten Minderheiten usw.).

Viele Reformer haben ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt

An dieser Stelle sollte gesagt werden, dass gerade einige Muslime, von denen man sich noch am ehesten einen Reformimpuls erhofft hätte, ihn im Gegenteil abgeschwächt, gar vereitelt haben. Auf dem Höhepunkt der gegenwärtigen Krise erleben wir Intellektuelle, die, ihrer islamischen Ideale beraubt oder auch nur begierig nach westlicher Akzeptanz, wie in einer beständigen Selbstgeißelung die Debatte vereinfachen. So bestätigen sie alle westlichen Gewissheiten über den Islam, alle Klischees, alle alten wie neuen Verdächtigungen, die ihm gegenüber gehegt wurden und werden.

Anstatt Brücken zu bauen zwischen den beiden Kulturen, sprechen sie im Grunde einer von ihnen das Recht ab, über universelle Prinzipien auch nur zu reden. Mögen sie sich dadurch in westlichen Intellektuellenkreisen auch Anerkennung und Bewunderung erworben haben, haben sie bei den Muslimen jede Glaubwürdigkeit verspielt, und einige wurden, was noch ernster ist, so zu Verbündeten der borniertesten Islamfeinde. Noch ein Paradox dieser Krisenzeit, die uns zwingt, über das Wesen der Kritik nachzudenken: Wer spricht überhaupt und von welchem Standpunkt aus? In wessen Namen? Und, letztlich auch, aus welchen Beweggründen?

Zeichen einschneidender Veränderungen

Trotzdem ist die Lage nicht hoffnungslos: Forschungen und Feldstudien, die in den letzten Jahren in der arabischen Welt, in Afrika und Asien, aber auch von islamischen Gruppen in Europa und Nordamerika geleistet wurden, lassen auf einen tief greifenden Wandel hoffen.

Die jüngeren Generationen zwischen Dakar und Djakarta beginnen, sich mit der Welt zu vernetzen. Neue Kommunikationsmittel helfen ihnen beim Austausch von Informationen und Erfahrungen. Im virtuellen Kontakt mit internationalen Widerstandsbewegungen gleichen sie sich der Dynamik des Westens an, erweitern ihren Horizont und schaffen die Basis für echte Partnerschaft.

Neue authentische Wirtschaftsinitiativen

In Indonesien, Malaysia, Bangladesh und zahlreichen islamischen Ländern Afrikas werden Alternativen zu herkömmlichen, westlichen Wirtschaftsformen erprobt. Dazu gehört etwa die Gründung kleiner bis mittelgroßer Firmen oder von Entwicklungskooperativen, von denen der Westen bisher noch kaum Notiz genommen hat.

Kaum zu überschätzen ist die Bedeutung der im Westen lebenden Muslime und ihrer Teilhabe an der Anti-Globalisierungsbewegung. Sie sind es, die den Prinzipien des Islam treu bleiben, und der universellen Ausrichtung seiner Botschaft und Prinzipien. Sie sind es, die wirklich Brücken bauen zu den islamischen Ländern, vielfältigen Partnerschaften ebenso den Weg bereiten wie einem neuen islamischen Selbstverständnis, dem es eines Tages gelingen wird, alte Konflikte zu überwinden.

Diejenigen, die diesen Weg beschreiten, wissen sehr wohl, dass es ein langer und beschwerlicher sein wird, dass Klischees und gegenseitige Verdächtigungen die Regel bleiben werden. Doch ihnen obliegt es, sich ihrer Verantwortung gewachsen zu zeigen, wenn es darum geht, neue Beziehungen zu knüpfen; von ihnen hängt es ab, ob, zusammen mit den weniger entwickelten Ländern des Südens, Konzepte für eine gerechtere Welt entwickelt werden können; sie sind es, die den universellen Anspruch islamischer Werte wieder aufnehmen und gangbare Wege für einen ehrlichen Dialog mit dem Westen aufzeigen müssen; und in ihrer Verantwortung schließlich liegt es auch, endlich die so dringende Debatte innerhalb der islamischen Welt anzustoßen, eine anspruchsvolle, fruchtbare Diskussion, in der auch Selbstkritik ihren selbstverständlichen Platz hat.

Ihre Verantwortung also ist immens, und wir stehen erst am Anfang einer langen Reise. Sie verlangt den Muslimen die Erkenntnis ab, dass die Befreiung des besetzten Jerusalem uns nicht vergessen machen darf, dass auch Mekka befreit werden muss, und zwar ideologisch, wirtschaftlich und politisch. Das Mekka, dem wir uns durch unsere eigenen Irrwege immer mehr entfremdet und das wir verraten haben.

© Tariq Ramadan

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Tariq Ramadan wurde 1962 in Genf geboren. Er unterrichtet am Collège de Saussure in Genf und hielt Vorlesungen in Islamkunde an der Universität von Fribourg. Seine Thesen werden sehr kontrovers diskutiert, ihm wurde sogar Antisemitismus vorgeworfen, wenngleich er sich in der Vergangenheit stets öffentlich davon distanzierte.

Lesen Sie mehr über Tariq Ramadan in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5.12.2003