Machtverschiebung im Nahen Osten

Der Ausbruch der arabischen Aufstände hat das Machtgefüge im Nahen Osten in Bewegung gebracht. Da die Stärken und Schwächen der meisten Akteure höchst ungewiss sind, sind auch die Machtverhältnisse in der Region noch lange nicht festgeschrieben. Von Volker Perthes

Von Volker Perthes

So wie die Dinge zurzeit stehen, ist Ägypten weiterhin einer der einflussreichsten Akteure in der Region, wobei der Erfolg oder Misserfolg seines politischen und wirtschaftlichen Wandels auch die Entwicklung anderer arabischer Länder beeinflusst. Aber auf Ägypten lastet das Gewicht seiner inneren Schwierigkeiten, wie eine schrumpfende Wirtschaft und eine Sicherheitssituation, in welcher die Armee Polizeiaufgaben übernimmt.

Die Ausdehnung der "weichen" ägyptischen Macht hängt davon ab, ob seine erste demokratisch gewählte Regierung unter Präsident Mohammed Mursi schwierige Entscheidungen treffen und einen innenpolitischen Konsens erzielen kann. Ein Erfolg beim Aufbau einer effizienten Staatsführung wäre ein Vorbild, das viele Nachbarländer zumindest teilweise nachahmen würden.

In dieser Hinsicht ist die Türkei ein gutes Beispiel. Die Macht der Türkei besteht hauptsächlich aus der dynamischen Wirtschaft des Landes. Die beeindruckende militärische Stärke ist als Machtinstrument nur bedingt nutzbar, ihr politischer Einfluss ist überbewertet, besonders in Syrien.

Eine Annäherung an Israel und, noch wichtiger, ein dauerhafter Frieden mit der kurdischen Bevölkerung, würde den regionalen Einfluss der Türkei stärken. Israel ist der Gesamtsieger, trotz des sich verändernden strategischen Umfelds und der Abwesenheit von einer weichen Macht in der Region.

Keine Sicherheitsbedrohung für Israel

Syriens Präsiedent Baschar al-Assad; Foto: dpa/picture-alliance
Mit dem Rücken zur Wand: "Der bevorstehende Niedergang von Israels verlässlichstem Feind, dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, ist für Israel fast genauso wichtig wie der Verlust seines Verbündeten, des früheren ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak", schreibt Perthes.

​​Der bevorstehende Niedergang von Israels verlässlichstem Feind, dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, ist für Israel fast genauso wichtig wie der Verlust seines Verbündeten, des früheren ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. Israels Wirtschaft und Abschreckungspotenzial sind jedoch stärker als je zuvor, sodass kein regionaler Akteur kurzfristig eine Sicherheitsbedrohung für Israel darstellen wird.

In der Zwischenzeit haben sich die Bemühungen Qatars in den vergangenen zwei Jahrzehnten, seinen Einfluss auszudehnen, ausgezahlt und das Land entwickelt eine außergewöhnliche Anziehungskraft. Seit 2011 hat sich Qatar zunehmend in den Angelegenheiten seiner Nachbarn engagiert und die libysche Revolution, die ägyptische Regierung und die syrische Opposition unterstützt.

Aber möglicherweise überspannen die Qatarer den Bogen. Qatar hat Geld, aber keine andere harte Macht, und es ist wegen seiner Einmischung in Syrien und seiner Unterstützung der Muslimbrüderschaft kritisiert worden. Wenn Qatar seine Ressourcen nicht klug einsetzt, kann es die Legitimität verlieren, die es braucht, um seine Unterstützung zu untermauern.

Gleichzeitig verliert Syrien mit dem Bürgerkrieg seinen einst erheblichen Einfluss in der Region. Das Land ist zum Objekt eines geopolitischen Kampfes geworden, der unter verschiedenen regionalen Akteuren ausgetragen wird.

Aber die Bemühungen der Golfstaaten, die syrische Opposition zu bewaffnen, sind nicht ausreichend, um dem Konflikt eine entscheidende Wende zu geben, besonders angesichts der schweren Waffen, über die das Regime Assads verfügt. Und die Opposition konnte sich den Ruf und den Einfluss, den Assad verloren hat, nicht aneignen.

Im Lager der Verlierer

Aber abgesehen von den Machtverhältnissen zwischen dem Regime und seinen Gegnern wird Syrien wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus nicht in der Lage sein, eine starke, zentrale Regierung zu bilden, wenn überhaupt jemals. Im besten Fall wird Syrien aus dem aktuellen Konflikt mit einem dezentralisierten oder föderalen Staat hervorgehen, im schlimmsten Fall wird es den Weg Somalias gehen. In beiden Fällen befindet sich Syrien zurzeit im Lager der Verlierer.

Der Irak hätte ein Gewinner sein können, hätte er die Erholung seiner Ölindustrie und den Rückzug der US-Truppen in eine politische Stabilisierung und regionalen Einfluss verwandeln können. Aber die Regierung von Nuri al-Maliki gilt weithin als ein weiteres autoritäres und sektiererisches Regime, sodass der Irak keine weiche Macht erwerben konnte.

Darüber hinaus sind die Chancen, dass das irakische Kurdistan seine Unabhängigkeit, de facto oder de jure, erringen wird, größer als je zuvor. Die irakischen Kurden können ihren Einfluss vielleicht sogar in dem von Kurden besiedelte Nordsyrien geltend machen und damit ein einflussreicherer Akteur in der Region werden als die irakische Regierung in Bagdad.

Die Überlebenden Iran und Saudi-Arabien

Der Nachbar Iran scheint der Überlebende schlechthin zu sein. Er hat die zunehmend erdrückenden Sanktionen der internationalen Gemeinschaft verkraftet und dabei sein Atomprogramm aufrecht erhalten, und er nimmt nach wie vor an dem diplomatischen Prozess der P5+1 teil (die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen plus Deutschland). Der Iran hat seinen Einfluss im Irak gestärkt und dazu beigetragen, Assads Regime, einen wichtigen Verbündeten, viel länger am Leben zu erhalten, als erwartet.

Irans Revolutionsführer Ali Khamenei; Foto: dpa
Erdrückende Sanktionen überlebt: Der Westen wirft dem Iran unter Revolutionsführer Ali Khamenei vor, unter dem Deckmantel eines zivilen Atomprogramms an Atombomben zu arbeiten. Der Iran weist dies zurück.

​​Aber eine zunehmende politische Polarisierung in der Region könnte die Stellung des Irans untergraben. Die regionalen Konflikte entzünden sich zunehmend an der Linie zwischen Sunniten und Schiiten, daher wird es immer schwieriger für den größtenteils schiitischen Iran, Einfluss in Ländern mit einer sunnitischen Mehrheit zu gewinnen. Und die iranische Unterstützung des brutalen Regimes in Syrien schadet seiner einst erheblichen weichen Macht in anderen arabischen Ländern sehr.

Saudi-Arabien kann auch als Überlebender gelten, da es mit der tief greifenden strategischen Unsicherheit umgehen muss, die sich aus den iranischen Bemühungen, seine Position zu schwächen, den sozialen Unruhen in dem benachbarten und verbündeten Bahrain und der Machtübernahme der Muslimbrüderschaft in Ägypten ergeben. Die saudische Spitze ist auch zunehmend misstrauisch den amerikanischen Verbündeten gegenüber, von denen die Sicherheit des Landes abhängt.

Gewaltige innenpolitische Herausforderungen

Gleichzeitig steht Saudi-Arabien vor erheblichen innenpolitischen Herausforderungen, einschließlich großer wirtschaftlicher Ungleichheiten, unzureichender Serviceleistungen, einer wachsenden Frustration angesichts fehlender politischer Freiheiten sowie eines schwierigen Ablöseprozesses innerhalb der Königsfamilie. Trotzdem, obwohl die weiche Macht Saudi-Arabiens schwindet, wird sein massiver Ölreichtum wahrscheinlich sicherstellen, dass es ein regionales Schwergewicht bleibt.

Auch nicht-staatliche Akteure spielen eine wichtige Rolle im Machtgefüge des Nahen Ostens. Religiöse Minderheiten sind unsicherer geworden. Die einst unterdrückten Kurden gewinnen an Boden. Von den wichtigsten transnationalen politischen Gruppen war die Muslimbrüderschaft der deutlichste Gewinner.

Aber Erfolg bringt neue Herausforderungen. Von Islamisten geführte Regierungen müssen auf der sozio-ökonomischen Front Ergebnisse vorweisen und gleichzeitig demokratische Institutionen aufbauen. (Ironischerweise können sie erst für sich in Anspruch nehmen, einen besseren Staat aufgebaut zu haben, wenn sie ihre erste Niederlage an der Wahlurne akzeptiert haben.) Die Herausforderung für alle aktuellen Gewinner der Region ist, die Gewinne von heute in glaubwürdige, langfristige Macht umzuwandeln.

Volker Perthes

© Qantara.de/Project Syndicate 2013

Aus dem Englischen von Eva Göllner

Volker Perthes ist Nahostexperte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Zuletzt erschien sein Buch "Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen" 2011 im Verlag Pantheon.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de