Aus Gastarbeitern wurden Bürger

Im Jahr 1961 schlossen die Türkei und Deutschland ein Anwerbeabkommen. Die so genannten Gastarbeiter sollten nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben. Vedat Acikgöz erzählt ihre Geschichte.

Im Jahr 1961 schlossen die Türkei und Deutschland ein Anwerbeabkommen ab. Die so genannten Gastarbeiter sollten nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben. Doch für viele kam es anders. Vedat Acikgöz erzählt ihre Geschichte.

Armando Rodrigues, der millionste Gastarbeiter, bei seiner Ankunft in Deutschland 1964
Armando Rodrigues, der millionste Gastarbeiter, bei seiner Ankunft in Deutschland 1964

​​Am 30. Oktober 1961 wurde es offiziell. Die Türkei und Deutschland schlossen ein Anwerbeabkommen ab. Damals sollten die türkischen Gastarbeiter die Lücken auf dem Arbeitsmarkt kurzfristig schließen. Ihr Aufenthalt war deshalb nur für eine begrenzte Zeit gedacht. Dies entsprach auch den Vorstellungen der Einwanderer, denn die meisten beabsichtigten, nach wenigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurückzukehren.

Doch für viele kam es anders. Sie blieben in Deutschland und leben hier bereits in der vierten Generation. Heute sind die über zwei Millionen Türken mit Abstand die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Besonders in vielen westdeutschen Großstädten prägen die einstigen Gastarbeiter und ihre Nachkommen längst den Charakter ganzer Wohnviertel.

"Es kamen arbeitssuchende Menschen hierher, die euphorisch, enthusiastisch waren, die Visionen, Vorstellungen hatten. Es ging darum, in kurzer Zeit hierher zu kommen, zu arbeiten, Geld zu erwirtschaften und dann in der Heimat mit dem Geld etwas zu kaufen und die Existenz weiter zu sichern."

Diese Sätze von Murat Güngör, Mitarbeiter des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration aus der Türkei, DOMIT, sind charakteristisch für die ersten Gastarbeiter aus der Türkei.

Eine Bohnensuppe zum Empfang

So wie viele wollte auch Yilmaz Kinali nur ein paar Jahre hier bleiben, ein wenig Geld verdienen und dann zurück in die Heimat und mit dem verdienten Geld ein Auto kaufen.

Nach der Gesundheitsprüfung in der deutschen Verbindungsstelle in Istanbul begann im April 1964 für ihn die Reise nach München, mit dem Zug vom Hauptbahnhof Sirkeci in Istanbul.

Die Anreise mit der Eisenbahn dauerte damals drei Tage. Die hygienischen Verhältnisse der Zugabteile waren oft katastrophal, sanitäre Zustände und Komfort sehr eingeschränkt, die Fahrt war mit heute kaum noch vorstellbaren Strapazen verbunden. Angekommen in München bekamen die Gastarbeiter, bevor sie in ihre Städte verteilt wurden, erst einmal etwas zu Essen:

"Als wir in München ankamen, haben wir erst einmal Bohnensuppe bekommen. Dazu gab es noch Schokolade und Kekse als Nachtisch", erinnert sich Yilmaz Kinali.

In Köln angekommen, begann Yilmaz Kinali mit der Arbeit beim Autohersteller Ford. In den ersten Wochen und Monaten hatten es die türkischen Gastarbeiter nicht leicht. Kaum einer konnte die Sprache, deshalb verständigten sie sich oft mit Händen und Füßen.

"In der Gegend, wo ich wohnte, gab es einen Metzger. Hinter dem Tresen stand eine schöne Frau. Natürlich konnte ich damals kein Deutsch. Die Frau schaute mich ratlos an und ich sie ebenfalls. Um ein bisschen Rindfleisch zu kaufen, gab ich "Muh"-Laute wie eine Kuh von mir. Solche Momente hatten wir oft", erinnert sich Yilmaz Kinali.

"Ich würde für dieses Land sterben"

Die Absicht, in die Heimat zurückzukehren, hatte Yilmaz Kinali nur in den ersten Monaten und Jahren. Mittlerweile ist der 68-jährige Rentner schon seit 42 Jahren in Deutschland, seine vier Kinder sind alle hier geboren und hier aufgewachsen. Seine Eltern in Istanbul sind gestorben und eine Rückkehr in die Heimat komme für ihn nicht in Frage, erklärt er weinend:

"Die Türkei ist natürlich mein Heimatland. Doch wenn Deutschland etwas passieren würde, dann wäre ich der erste, der nach einer Waffe greifen würde. Denn meine ganze Jugend habe ich diesem Land geopfert. Die Deutschen wollen uns vielleicht nicht, aber ich würde für dieses Land sterben."

So wie Yilmaz Kinali sind die meisten in Deutschland geblieben - nicht zuletzt auf Bitten der deutschen Industrie, die es schnell leid wurde, alle zwei Jahre neue Gastarbeiter anlernen zu müssen.

Das Ende des Wirtschaftswunders

Das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit und die Anwerbung von Gastarbeitern hatte 1973 mit der weltweiten Ölkrise ein Ende.

"1973 war wirtschaftlich gesehen für Deutschland ein schwieriges Jahr gewesen. Wir haben es da mit der Ölkrise zu tun gehabt und auch mit der Rezession. Und das hat dazu geführt, dass die damalige Regierung sich dazu entschlossen hatte, die Arbeitsmigration nach Deutschland zu beenden und mit den hiesigen Arbeitskräften dieses Potential einfach zu gewährleisten", erklärt Murat Güngör von DOMIT.

Diese Rechnung der Regierung ging aber nicht auf. Im Gegenteil, viele türkische Gastarbeiter holten ihre in der Heimat gebliebenen Familien nach Deutschland. Ein zweiter Versuch, die Zahl der Einwanderer zu stoppen und sogar zur Rückkehr zu bewegen, schlug fehl, so Murat Güngör:

"1984 war für Deutschland und für die Migranten sehr wichtig gewesen. Es gab diese Rückkehrförderung, initiiert von der damaligen Kohl-Regierung. Und damals wurde eine ganz einfache Rechnung gemacht. Wirtschaftlich ging es damals nicht gut und man wollte die Arbeitslosenzahlen drücken, wenn sie wieder nach Hause gehen würden.

"Das hat in dieser Zeit dazu geführt, dass viele Migranten damals mit rassistischen Ressentiments zu tun hatten, gesellschaftlich wie auch politisch. Mit diesem Rückkehrfördergesetz wurden den Leuten die Sozialausgaben zurückerstattet. Mit diesem kleinen finanziellen Paket haben sich einige Hunderttausend auf den Weg in die Türkei gemacht, um dort eine neue Existenz aufzubauen."

Heimatland Deutschland

Dennoch - die erhoffte Rückkehrwelle fand nicht statt. Mittlerweile leben mehr als zwei Millionen Türken in Deutschland. Besonders die Jugendlichen kennen Deutschland und die deutsche Sprache besser als die Türkei und die türkische Sprache. So auch die 22-jährige Rabiye Yigit.

"In der Türkei war ich im letzten Jahr und davor vor fünf Jahren. Es gefällt mir dort. Aber ich glaub nicht, dass ich dort für immer leben würde", erzählt sie. "Ich habe mich hier daran gewöhnt. Für die Urlaubszeit ist die Türkei auf jeden Fall perfekt, aber für immer dort leben? Ich weiß nicht, das glaube ich nicht. Vielleicht auch wegen der Sprache, ich bin zwar selbst Türkin, aber beherrsche die Sprache nicht so gut."

So wie Rabia denken viele türkische Jugendliche, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Für sie ist die Türkei ein fremdes Land. Ihre Heimat ist Deutschland.

Vedat Acikgöz

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004