Israel: Auf der Schnellstraße zur Annexion

Im Sommer hieß es, Israel habe sein Vorhaben, Teile des besetzten Westjordanlandes zu annektieren, ausgesetzt. Doch mit einem Masterplan für Straßenausbau treibt Israel seine Expansion im Westjordanland weiter voran. Hintergründe von Inge Günther aus Jerusalem

Von Inge Günther

Die internationale Gemeinschaft war mächtig erleichtert, als Israel sein Vorhaben, sich Teile des besetzten Westjordanlandes mit dem Segen von Donald Trump einzuverleiben, im Sommer zurückzog. Die Normalisierungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten hatten für Premier Benjamin Netanjahu Vorrang. Unter Joe Biden, dem designierten US-Präsidenten, hat eine de jure Annexion erst recht keine Chance.

Doch das Aufatmen scheint verfrüht. Denn was in den zuständigen israelischen Gremien derzeit geplant wird, läuft auf eine langfristig angelegte, faktische Annexion hinaus.

Nicht von ungefähr hofft das rechtsnationale Lager, die Zahl der Westbank-Siedler und Siedlerinnen von derzeit 440 000 in den nächsten 20 Jahren auf eine Million zu vergrößern. Laut einem zu Wochenbeginn veröffentlichten Report linker Nichtregierungsorganisationen soll ein jüngst von Verkehrsministerin Miri Regev präsentierter Masterplan für Straßen- und Transportentwicklung bis 2045 die dafür nötige Infrastruktur schaffen. Nach NGO-Angaben dient das Planungskonzept vor allem zwei Zielen. Es soll zum einen selbst entlegenen Siedlungen eine schnelle Anbindung an das israelische Kernland ermöglichen und zum anderen die palästinensischen Gebiete quasi fragmentieren.

Beides trage dazu bei, „die Ein-Staat-Realität mit ungleichen Rechten weiter zu zementieren“, heißt es in dem Report, recherchiert und herausgegeben von der besatzungskritischen Soldatengruppe „Breaking the Silence“ und dem „Israeli Center for Public Affairs“. Titel der detailreichen Studie: „Highway to Annexation“ – Schnellstraße zur Annexion.

Dass dies keine böswillige Unterstellung ist, ergibt sich aus Verkehrsministerin Miri Regevs eigenen Worten. Den Antrag auf Finanzmittel in Höhe von 100 Millionen Euro für den Bau von vier Schnellstraßen in der ersten Phase des dreistufigen Masterplans begründete die Verkehrsministerin, eine enge Vertraute von Netanjahu, wie folgt: „Wir nehmen nicht den Fuß vom Gas. Wir setzen auf de facto Souveränität und verbinden Israel, einschließlich Judäa und Samaria“ – sprich: das Westjordanland.

Infografik Karte israelische Siedlungen Westjordanland DE: Foto: DW
Infografik Karte israelische Siedlungen Westjordanland

Straßenbau und Expansion der Siedlungen gehen Hand in Hand

Was dahinter steckt, lässt sich anhand von ein paar Zahlen und Fakten veranschaulichen. Zu 60 Prozent gehen Siedlerinnen und Siedler einer Arbeit in Israel nach, das heißt, sie müssen täglich pendeln. Die Fahrerei ist eine zeitraubende Angelegenheit, wenn man auf einem entfernten Westbank-Hügel wohnt. Zu echten Trabantenstädten mit mehreren zehntausend Einwohnern haben sich nur Siedlungen wie Ariel, Beitar Illit, Maale Adumim oder Modiin Illit entwickelt, von wo aus man über mehrspurige Highways in weniger als einer halben Stunde seinen Arbeitsplatz im Großraum Tel Aviv oder Jerusalem erreicht.

Straßenausbau und Siedlungsexpansion gehen mithin Hand in Hand. Wie sehr, zeigt das Beispiel Nokdim, der Wohnort von Avigdor Lieberman, Israels rechtslastigem Chef der Partei Israel Beitenu (Israel ist unser Haus).

Die recht kleine Siedlung Nokdim südöstlich von Bethlehem wuchs binnen acht Jahren um neunzig Prozent dank einer Umgehungsstraße, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern die holprige Fahrt durch palästinensische Ortschaften erspart. Seit den neunziger Jahren, als nach den Osloer Abkommen der Bau solcher Umgehungsstraßen einsetzte, hat sich die Zahl der Siedler im Westjordanland insgesamt sogar vervierfacht.

Siedler aus dem ultraorthodoxen Milieu

Dieser Zuwachs an Siedlern kommt zur Hälfte aus dem ultraorthodoxen Milieu. So wie die strengfrommen Juden ziehen auch die Säkularen es bislang vor, sich in den Siedlungsblöcken nahe am Kernland niederzulassen. „Aber diese Ballungsräume spielen keine große Rolle für das strategische Ziel, eine Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern“, meint Jehuda Shaul, Mitgründer von „Breaking the Silence“ und Mitautor des Reports. Über einen möglichen Gebietstausch – die Siedlerblöcke werden Israel zugeschlagen, die palästinensische Seite erhält dafür Ersatzland an anderer Stelle – wurde schließlich schon in diversen Verhandlungsrunden diskutiert.

 

 

Es sind die über das Westjordanland verstreuten, weit mehr als hundert israelischen Siedlungskolonien, die eine Lösung versperren. Nur, wer will schon dorthin, nach Emanuel, Itamar oder Shilo, abgesehen von nationalreligiösen Ideologen, die keine Mühe scheuen, „biblisches Land“ zu besiedeln? Der Masterplan zielt darauf ab, auch ihre Lage attraktiver zu machen, um möglichst viele Ultraorthodoxe zum Umzug in die entfernten Winkel der Westbank zu bewegen.

Neben dem bereits begonnenen Ausbau der längs durch das Westjordanland laufenden Route 60 zu einer regelrechten Autobahn sind deshalb eine ganze Reihe von Querverbindungen vorgesehen, die auf schnellstem Wege in israelisches Staatsgebiet münden. Zudem sind eine weitere Nord-Süd-Trasse in der Pipeline sowie Unterführungen und Brücken geplant, um ohne den allmorgendlichen Stau an Verkehrsampeln und Checkpoints in die Metropole Jerusalem zu gelangen.



Yehuda Shaul breitet eine Karte mit dieser Zukunftsvision aus. Ähnlich einem Spinnennetz überziehen darauf die geplanten Großprojekte das 125 Kilometer lange und bis zu 45 Kilometer breite Westjordanland. „Die palästinensischen Städte und Dörfer werden Enklaven zwischen Highways sein“, konstatiert Shaul. Sie sollen sich mit krummen alten Straßen von einem Ort zum anderen begnügen. Dabei ist die palästinensische Bevölkerung fast fünf Mal größer als die Zahl der Siedler.

Palästinensische Gebiete fragmentiert

Ein Element des israelischen Masterplans, so Shaul, sei „unverkennbar mehr Separation“. Ein Eindruck, der sich auf unserer Tour in den Süden der Westbank verstärkt. Neben dem Gilo-Tunnel in Höhe von Bethlehem entsteht dort gerade eine zweite Tunnelröhre mit drei Fahrspuren. Wer in den Häusern der Siedler mit ihren roten Ziegeldächern lebt, wird in ein paar Jahren noch bequemer nach Jerusalem fahren können.

Auf der Rückfahrt nehmen wir hingegen die Strecke, die Palästinenserinnen und Palästinensern zugedacht ist, wenn sie aus Hebron oder Bethlehem in den Norden, nach Ramallah, wollen. Die Strecke führt über eine schmale, serpentinenreiche Landstraße durch Wadi in-Nar, das Feuertal – eine Art Nadelöhr – und weiter auf eine neue, gut ausgebaute Straße. Nur wird diese Straße in der Mitte von einer Mauer geteilt, um den palästinensischen vom israelischen Verkehr zu trennen. Im Volksmund wird sie „Apartheid Road“ genannt.

Inge Günther

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