"Es wird keine bedeutsamen Veränderungen geben"

Am 7. September wählt Marokko ein neues Parlament. Was könnte sich ändern, falls die islamistischen Kräfte stark zulegen? Mit der Politikwissenschaftlerin Malika Zeghal, Verfasserin eines Standardwerks über Religion und Politik in Marokko, sprach Martina Sabra.

Am 7. September wird in Marokko ein neues Parlament gewählt. Was könnte sich ändern, falls die islamistischen Kräfte stark zulegen? Mit der Politikwissenschaftlerin Malika Zeghal, Verfasserin eines Standardwerks über Religion und Politik in Marokko, sprach Martina Sabra.

Die französischen Politikwissenschaftlerin Malika Zeghal; Foto: University of Chicago
Für die französischen Politikwissenschaftlerin Malika Zeghal heißt die entscheidende Frage: "Welche politische Rolle soll der König als so genannter 'Befehlshaber der Gläubigen' in Zukunft spielen?"

​​Die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), derzeit drittstärkste Kraft im marokkanischen Parlament und führende islamistische Partei in Marokko, entstand in den neunziger Jahren. Man sagt, dass der Palast und die Geheimdienste an der Gründung beteiligt waren. Wie weit ist die PJD heute vom Regime kontrolliert?

Malika Zeghal: Ich denke, die PJD ist schon kontrolliert, schließlich wird Marokko von einem autoritären Regime beherrscht. Aber ich glaube, dass die PJD trotz allem ihre gewissen Freiräume hat. Die Medien in Marokko und international bezeichnen die PJD oft als "Palast-Islamisten". Mir ist das zu pauschal. Manche PJDler sind einverstanden, Satelliten des Palastes zu sein, andere nicht.

Abdelilah Benkirane zum Beispiel hat sich immer wieder für eine Beteiligung an der Regierung ausgesprochen. 2002 hatte man der PJD ein Ehrenministerium angeboten. Doch das scheiterte an Leuten wie Mustafa Ramid und anderen, die die absolute Macht der marokkanischen Monarchie beschränken wollen und eine Reform der Verfassung verlangen, ehe sie in eine Koalition eintreten.

Und dann gibt es noch die MUR, die PJD-nahe Vereinsbewegung, deren Mitglieder teilweise radikalere Positionen einnehmen als die Partei. So finden wir bei der PJD Leute, die den Radikalen den Teppich wegziehen, und andere, die sich nicht von der Monarchie domestizieren lassen.

Das konservative US-amerikanische Politikinstitut IRI behauptete schon im Jahr 2005, die Islamisten könnten bei der nächsten Parlamentswahl knapp die Hälfte der abgegebenen Wählerstimmen auf sich vereinen. Was meinen Sie?

Zeghal: Viele Beobachter bezweifeln die Prognosen des IRI. Ich denke, die PJD wird gute Ergebnisse erzielen und vielleicht in ein Koalitionsministerium eintreten. Es gibt bei der PJD viele Kräfte, die dazu bereit wären. Ansonsten glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass sich in der politischen Landschaft Marokkos viel verändern wird.

In einigen Städten Marokkos hatte die PJD ja in den vergangenen Jahren bereits Gelegenheit, ihre Politikfähigkeit unter Beweis zu stellen. Wie sind denn die bisherigen Erfahrungen zu bewerten?

Zeghal: Die PJD ist auf kommunaler Ebene bislang weniger durch Islamisierung hervorgetreten, sondern vielmehr durch ihr konsequentes Vorgehen gegen Korruption. Man hat die Frauen nicht unter den Schleier gezwungen, und man hat auch den Alkohol nicht verboten.

Es ging um gute Verwaltung, um öffentlichen Nahverkehr, um die Sauberkeit des öffentlichen Raums und vieles mehr. Das große Thema der PJD ist zurzeit die Moralisierung des öffentlichen Lebens. Der Islam ist dabei der Bezugsrahmen. Aber es geht mehr um persönliche Tugenden, um eine bestimmte Ethik als um Äußerlichkeiten wie Geschlechtertrennung oder Schleier.

Also ein pragmatischer Kurs?

Zeghal: Ja, sehr pragmatisch. Die Basis der PJD besteht aus vielen jungen, technokratischen Leuten. Und sie wollen die Macht. Man sieht das sehr gut daran, wie sie an die Wahlen herangehen.

Die von Abdeslam Yassine angeführte Bewegung für "Gerechtigkeit und Spiritualität" hat bislang keine Partei gegründet und sie ist auch nicht im Parlament vertreten. Die Sprecherin der Bewegung, Nadia Yassine, hat die PJD vor einigen Jahren in einem Interview als "natürlichen Verbündeten" auf dem Weg zu einer islamischeren Gesellschaft bezeichnet. Werden die Anhänger der Yassine-Bewegung die PJD wählen?

Zeghal: Offiziell boykottiert "Al Adl wal Ihsan" (Gerechtigkeit und Spiritualität) die Wahl am 7. September. Die Bewegung hat erklärt, dass sie das marokkanische System nicht für legitim hält. Aber es ist möglich, dass einzelne Mitglieder doch die PJD wählen. Auf jeden Fall ist "Al Adl wal Ihsan" eine starke Kraft und potentiell eine Gefahr für das Regime. Eine politische Liberalisierung würde der Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen. Wenn die politischen Spielräume jedoch noch enger werden, dann könnte "Al-Adl wal Ihsan" als Oppositionsbewegung erstarken.

Die beiden Journalisten Nicolas Beau und Catherine Graciet haben die These aufgestellt, dass Marokko binnen zehn Jahren eine islamische Revolution nach iranischem Vorbild erleben könnte, wenn nicht möglichst bald soziale Reformen eingeleitet werden. Was halten Sie von dieser Sichtweise?

Zeghal: Ich halte diese Sichtweise für übertrieben. Die PJD und die Bewegung für Gerechtigkeit und Spiritualität sind gegen radikale Gewalt, und ich denke, das ist nicht nur ein rhetorisches Bekenntnis, sondern eine ernstzunehmende Aussage.

Auch ein Blick auf die Geschichte des Landes gibt meines Erachtens wenig Anlass zur Vermutung, dass hier eine islamische Revolution stattfinden könnte. Ich bin nicht sehr beunruhigt was die Zukunft Marokkos angeht. Es gibt Fehlentwicklungen, aber man kann sie meiner Ansicht nach immer noch korrigieren.

Beau und Graciet behaupten auch, dass die marokkanische Gesellschaft ideologisch auf eine ähnliche Polarisierung zusteuert wie die algerische in den neunziger Jahren: hier das säkulare, dort das islamische Gesellschaftsprojekt. Halten Sie diese Sichtweise für angemessen?

Zeghal: Ja, da ist was dran. Eine ähnliche Polarisierung zeichnete sich in den Jahren 1999 und 2000 in der Debatte um das marokkanische Familienrecht ab. Aber die Art und Weise, in der das Problem gelöst wurde, zeigte auch, dass die Situation in Marokko nicht so schlimm war wie gedacht. Der König ist schließlich eingeschritten und die Debatte wurde beendet.

Ich glaube, dass die Unterscheidung in religiös und nicht religiös in Bezug auf Marokko etwas oberflächlich ist, und dass die Akteure selbst diesen Gegensatz konstruieren, um ihn in der Auseinandersetzung zu instrumentalisieren.

Der angebliche Gegensatz zwischen Orient und Okzident hat ja eine starke politische Mobilisierungskraft, das ist Huntingtons "Kampf der Kulturen" im Spiegelbild. Sie müssen sehen, dass die marokkanische Gesellschaft als ganze zutiefst religiös ist. Selbst eine Partei, die sich sozialistisch nennt, wie die USFP, hat religiöse Wurzeln und ist nicht laizistisch.

Die große Frage in Marokko ist nicht, ob die Gesellschaft sich als Ganzes säkularisiert. Die Frage ist, ob das System der politischen Herrschaft säkularisiert wird. Welche politische Rolle soll der König als so genannter "Befehlshaber der Gläubigen" (Amir Al-Mu'minin) in Zukunft spielen? Das ist die entscheidende Debatte.

Interview: Martina Sabra

© Qantara.de 2007

Die französischen Politikwissenschaftlerin Malika Zeghal ist derzeit Professorin an der University of Chicago.

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