Symptombekämpfung statt Lösungsansätze

In Frankreich begegnet man den Problemen der marginalisierten Jugendlichen in den Banlieues wie auch der sichtbaren Präsenz des orthodoxen Islam mit einer Mischung aus Indifferenz und Hilflosigkeit. Von Jürgen Ritte

In Frankreich begegnet man den Problemen der marginalisierten Jugendlichen in den Banlieues wie auch der sichtbaren Präsenz des orthodoxen Islam mit einer Mischung aus Indifferenz und Hilflosigkeit. Jürgen Ritte berichtet

Foto: AP
Für viele "europäische" Franzosen sind sie potenziell delinquent oder kompromisslos religiös: Frankreichs Muslime.

​​In Asnières, einer Gemeinde an der Pariser Peripherie, teilen sich ein Institut der Universität Sorbonne Nouvelle und eine Abteilung des nationalen Instituts für Orientalische Sprachen und Kulturen (INALCO) einen kleinen Campus.

Wer allerdings die dortigen Gebäude unvorbereitet betritt, den mag an manchen Tagen die Vermutung ankommen, sich in der Tür geirrt zu haben: Scharen verschleierter und total verhüllter Frauen ziehen durchs Foyer, dazwischen auch ein paar junge Männer mit Bärten und in einer Aufmachung, die keinen Zweifel an ihrer Religionszugehörigkeit aufkommen lässt. Studenten und Studentinnen der Arabistik, bei denen Fach und Konfession einander zu bedingen scheinen.

Popularität des Schleiers

Wer mit den Örtlichkeiten seit längeren Jahren vertraut ist, weiß zu berichten, dass die Zahl der Verschleierten zunimmt. Und er stellt auch fest, dass so manches wie bei einer Nonne streng eingefaßte Gesicht, so manches Augenpaar in den Schlitzen der Gesichtsschleier eher auf rein europäische denn nordafrikanische Ursprünge verweist.

Die hier tätigen Hochschullehrer aus den anderen Disziplinen beobachten solches Treiben mit dem - verhaltenen - Ausdruck des Missfallens, des Misstrauens. Eine junge Romanistin, die einen Lehrauftrag an der islamischen Universität Kairo wahrgenommen hat, stellt nach ihrer Rückkehr fest, dass sie dort weniger verschleierte Frauen auf dem Campus gesehen habe als hier.

Sie staunt - und sie ärgert sich darüber, dass im republikanisch laizistischen Frankreich geduldet wird, was nicht einmal an der islamischen Universität eines arabischen Landes die Regel ist. In Asnières gehen unterdessen die Verhüllten unbehelligt ihrem Studium nach, haben laizistische Professoren, sitzen in der Mensa oder der Bibliothek neben anderen Studenten, mit denen sie allerdings nicht viel verbindet.

Das Kopftuchverbot ist nur Kosmetik

Dies ist ein Aperçu, ein beliebiger Schnappschuss aus Frankreich im Jahre 2005 - dem Jahr, da man sich hierzulande anschickt, an den 100. Jahrestag der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche, mithin: von Staat und Religion zu erinnern, welches im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Grundpfeiler der republikanischen Identität des Landes geworden ist.

Ein sarkastischer Beobachter könnte allerdings behaupten, dass die "Festivitäten" schon Ende 2003 begonnen und am 15. März 2004 ihren Höhepunkt erlebt haben, als das hitzig diskutierte Gesetz verabschiedet wurde, welches das Tragen von offensichtlichen Zeichen religiöser Zugehörigkeit an öffentlichen Schulen verbietet.

Die Allgemeinheit der Formulierung, die man lediglich als Bekräftigung des historischen Gesetzes vom September 1905 hätte auffassen können, ließ niemanden im Zweifel darüber, wer (und vor allem was) konkret gemeint war: das "islamische Kopftuch" muslimischer Schulmädchen:

Denn an diesem Stück Stoff entzündet sich seit 1989, als in der nordfranzösischen Stadt Creil zwei Mädchen wegen Tragens jenes "offensichtlichen Zeichens" vom Unterricht ausgeschlossen wurden, die Polemik um die missglückte Integration der muslimischen Bevölkerung Frankreichs.

Mit rund 4 Millionen Menschen stellt diese, auch wenn man nur zehn Prozent als praktizierende Gläubige rechnen darf, die zweitstärkste Religionsgemeinschaft des Landes nach den Katholiken.

Aus der Einwanderung und den ehemaligen Kolonien hervorgegangen, gelten Frankreichs Muslime inzwischen - das heißt in der zweiten und dritten Generation - als sozioökonomischer Problemfall: Sie bewohnen die tristen, unmenschlichen Silos der Vorstädte, die jungen Leute sind arbeitslos und in der Vorstellung der "europäischen" Franzosen - ganz gleich, ob politisch links oder rechts orientiert - potenziell delinquent und/oder kompromisslos religiös (also archaisch) orientiert in ihren Wertvorstellungen.

In der republikanischen, laizistischen und egalitären Vorstellung wäre die Schule der Ort, wo sich eine echte Chancengleichheit und Integration organisieren lassen müsste. In Wirklichkeit aber belässt der Staat es bei seiner republikanischen Rhetorik, schickt lieber die Polizei anstelle von adäquat ausgebildeten Pädagogen und verfolgt Symptome (wie das Kopftuch); und dies mit - zumindest statistischem - Erfolg:

Glaubt man den offiziellen Zahlen, dann präsentierten sich lediglich 639 Schülerinnen mit Kopftuch zum Schuljahrbeginn 2004/05 (im Jahr zuvor waren es noch 1645). Nach Diskussion mit der zuständigen Schulleitung reduzierte sich die Zahl auf 47 Schülerinnen, die ihr Pensum per Fernkurs absolvieren werden. Eine "quantité négligeable"? - Unterdessen verbieten gläubige Muslime ihren kranken Frauen, sich von einem Arzt männlichen Geschlechts untersuchen zu lassen.

Gläubige und Citoyens?

Zurück auf unseren Campus in Asnières. Die in Schwarz, Braun oder Grau verhüllten Studentinnen sind vom so genannten "Kopftuchgesetz" nicht betroffen. Als Erwachsene, also Volljährige, können sie den öffentlichen Raum Universität betreten, wie sie möchten. Eine Enklave friedlicher Multikulturalität bewohnen (und bilden) sie indes nicht.

Es ist eher ein ungeschriebenes Stillhalteabkommen, das diesen Zustand ermöglicht. Vor zwei Jahren konnte es noch vorkommen, dass man die Tür zum Seminarraum aufstieß und fünf oder sechs verhüllte Gestalten hinter den Bänken aus dem Gebet aufschreckten.

Zur gleichen Zeit attackierten, mitten im Unterricht, männliche muslimische Studenten eine Hochschullehrerin, die es gewagt hatte, als Frau zu Zwecken einer Lyrik-Interpretation Koranverse zu zitieren. Von Gegenreaktionen seitens der verhüllten weiblichen Zuhörerschaft wurde nichts bekannt.

Letzteres Vorkommnis ging durch die nationale Presse, woraufhin der Direktor des INALCO einen Verhaltenskodex, eine Art "Charta" entwarf, die an ein paar Grundregeln akademisch- wissenschaftlichen Verhaltens und demokratisch- republikanischen Miteinanders erinnert und von allen Studenten des Instituts unterzeichnet werden muss.

Dem derzeitigen Erziehungsminister François Fillon, der das Gesetz vom März 2004 auf die Hochschulen ausweiten möchte, schwebt Ähnliches vor. Allein, mit Verordnungen, Dekreten und Gesetzen lässt sich ein Bekenntnis zu den religionsneutralen Werten der Republik nicht erzwingen.

Die muslimischen Studenten in Asnières, die vergeblich auf einen eigenen Gebetsraum in der Universität gehofft hatten, geben, wenn überhaupt, eine standardisierte Antwort: Selbstverständlich seien sie loyale französische "citoyens", aber ihre religiöse und kulturelle Identität müsse respektiert werden. Wie sie diesen intellektuellen Spagat bewältigen, bleibt ihr Geheimnis.

Aber sie sind, auch nach Auskunft ihrer Lehrer, keine radikalen Islamisten. Und das ist absolut glaubhaft. Denn der universitäre Islamismus geht in Frankreich ganz andere Wege. Er hat, insofern ist er säkularisiert, von den historischen Protestbewegungen in Europa gelernt und versucht den - verdeckten - Marsch durch die Institutionen.

Seit 1989, dem Jahr der ersten öffentlichen Kopftuchdebatte, tritt die studentische Vereinigung der "Etudiants musulmans de France" (EMF) in Erscheinung. In ihren öffentlichen Auftritten, etwa im Internet, gibt sie sich als freundliche Organisatorin von kultureller und sportiver Freizeitbeschäftigung.

Gleichzeitig geht sie Bündnisse mit konservativen und korporatistischen Studentenvertretungen ein, um das traditionelle Monopol der linken (und laizistischen) UNEF zu brechen.

Von der Linken ignoriert

Das Ziel der EMF, die in Tariq Ramadan ihren doppelzüngigen Vorsprecher hat ("Ja, wir sind laizistisch, aber was heißt Laizismus, wenn auch unsere Kolonialherren und selbst Saddam Hussein laizistisch waren?"), ist die Aufweichung der Gesetze von 1905.

Dass sie sich mit der Linken, die seit je als Fürsprecherin der sozial Deklassierten aufgetreten ist, nicht mehr identifizieren kann und will, ist Anlass zur Besorgnis, wirft aber auch ein bezeichnendes Licht auf die Sozialistische und die Kommunistische Partei Frankreichs.

Erstere hat sich erfolgreich der Bourgeoisie angedient, Letztere hat sich allzu lange auf den "Arbeiter" klassischen (und also klassenkämpferischen) Zuschnitts konzentriert, ohne der soziokulturellen Dimension der nordafrikanischen Einwanderung auch nur die geringste Beachtung zu schenken.

Nach hundert Jahren staatlichen Laizismus, nach einem halben Jahrhundert der massiven Einwanderung aus Nordafrika hat Frankreich seine muslimische Bevölkerung nicht wirklich integriert. Bestenfalls als Komiker (die den kleinen "banlieuesard", den dummen Vorstädter abgeben) und als Fußballstars haben Franzosen muslimischer Abstammung eine soziale Aufstiegschance.

Anders als in England oder den USA sieht man hier nie einen schwarzen oder braunen Nachrichtensprecher im Fernsehen. Junge Muslime fühlen sich in Frankreich nicht zu Hause, nicht ernst genommen (es sei denn als "Problemfall" für die wenigen und miserabel bezahlten Sozialarbeiter). Bringen sie es bis zum Abitur, dann studieren sie nicht unbedingt Arabistik, sondern mehrheitlich ingenieur- und naturwissenschaftliche Fächer.

Diese bringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt und versprechen eine soziale Revanche, eine Revanche, die auf dem kulturellen Sektor bereits genommen wird - mit der Bekräftigung der muslimischen Identität. Insofern haben wir in Asnières ein Symptom besichtigt, aber keinesfalls die grosse Grundbewegung.

Jürgen Ritte

© Neue Zürcher Zeitung 2005

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