Gegenstrategien zum Neo-Salafismus: Religion ist ein Teil der Lösung

Nicht erst seit dem Anschlag in Manchester wird über die Ursachen islamistischer Radikalisierung diskutiert. Frankfurter Islamforscher machen Vorschläge, welche Gegenstrategien erfolgsversprechend sind.

"Es gibt einen Punkt, an dem Eltern, Gemeinden und Schule verhindern können, dass junge Menschen völlig aus dem Ruder laufen." Harry Harun Behr (55) klingt optimistisch. Der Professor für Islamische Religionspädagogik und Fachdidaktik des Islamischen Religionsunterrichts an der Universität Frankfurt stammt aus einem jüdischen Elternhaus, war katholisch und konvertierte dann mit 17 Jahren nach einem Aufenthalt in Indonesien zum Islam. Behr ist religiös weite Wege gegangen. Und weite Wege sind nach seiner Einschätzung auch notwendig, wenn es darum geht, die Radikalisierung junger Muslime zu verhindern.

Gemeinsam mit dem Direktor des Frankfurter Instituts für Studien der Kultur und Gesellschaft des Islam, Bekim Agai, und der Politikwissenschaftlerin Meltem Kulacatan hat Behr jetzt zusammengefasst, welche Strategien Islamisten nutzen, um junge Menschen in einen gewalttätigen Salafismus zu locken. Und welche Gegenstrategien funktionieren. Die Expertise ist am Mittwoch im "Mediendienst Integration" erschienen.

Die Autoren widersprechen der Einschätzung, dass militante Islamisten vor allem religiöse Ansprache nutzen, um neue Mitglieder zu gewinnen. "Neo-salafistische Netzwerke sprechen Jugendliche meist auf der persönlichen Ebene an", betonen sie. Themen seien der Alltag, ihre Sorgen in der Schule und ihre Konflikten mit Eltern oder Freunden. Sie böten den jungen Menschen ein offenes Ohr und seien über Facebook und Skype zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar.

Im Fokus der Verführer stehen zudem junge Menschen, die Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht haben. Geboten werden aber keine Lösungen zur Überwindung solcher Konflikte - im Gegenteil: Die Jugendlichen würden in ihrem Gefühl bestätigt, dass sie abgehängt und unerwünscht seien. Das "Stereotyp der Muslime als Opfer" werde verstärkt, die Welt in "Wir" (die Muslime) und die "Anderen" (die Ungläubigen, die Westler) eingeteilt.

Um dieses Entfremdungsgefühl zu verstärken, greifen militante Neo-Salafisten laut Studie oft auf Erzählungen aus der Geschichte des Islams zurück. So werde den Jugendlichen weisgemacht, dass sie sich in einer ähnlichen Situation wie der Prophet Mohammed bei seiner Flucht befänden. Unterdrücktsein als heilige Erfahrung. In den islamistischen Netzwerken dagegen - so das Versprechen - seien die jungen Menschen Teil einer Gemeinschaft, die sie braucht, anerkennt und wertschätzt.

Als Gegenstrategie fordern die Autoren einen breiten Ansatz, der pädagogische, religiöse und politische Maßnahmen enthält. "Mir ist wichtig, stärker in die sozialen Milieus von jungen Muslimen zu gehen", sagt Behr. Den Islam sieht er dabei als Teil der Lösung: Die religiöse Sehnsucht der Jugendlichen müsse ernst genommen werden, so die Wissenschaftler. Das solle aber nicht über Indoktrination, sondern über Wissensvermittlung und Verbindung mit der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen geschehen. Zugleich sollten die Jugendlichen durch Interpretation von Korantexten erfahren, dass radikale Islamisten die Tradition des Islam verfälschten, indem sie Familien spalteten, Kinder rekrutierten, sie zu Opfern des Krieges machten und sie missbrauchten.

Auch über die Religion hinaus müssten die Jugendlichen nach den Empfehlungen der Wissenschaftler "sprechfähig" gemacht werden. In ihren Moscheegemeinden und im Elternhaus fänden sie häufig zu wenig Gehör, wenn es um Sorgen und Probleme im Alltag geht. Die Forscher plädieren deshalb für "geschützte Räume" und einen größeren Pool an Pädagogen, Lehrern, Sozialarbeitern und Imamen, die auf die Bedürfnisse der Jugendlichen eingehen könnten.

Darüber hinaus sehen die Islamexperten die gesamte Gesellschaft gefordert: Sie müsse sich stärker für Minderheiten öffnen und intensiver darüber diskutieren, wie das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft gelingt. Integration sei nicht nur eine Bringschuld der Migranten; die Gesellschaft müsse deutlich machen, dass sie auch von den Zuwanderern lernen könne und sich bereichert fühle. "Jede religionsgruppenspezifisch adressierte Restriktion muss aufgehoben werden, etwa Burka- und Kopftuchverbote" so die Wissenschaftler. (KNA)