Die Angst reist mit

Die Waffenruhe zwischen der Hisbollah und Israel hat im Libanon zwar eine Rückreisewelle vieler Flüchtlinge in ihre Heimatorte ausgelöst, jedoch ist das Problem der Vertreibung vieler Libanesen nach wie vor nicht gelöst. Von Anne Françoise Weber

Auch wenn sich gleich am ersten Tag der Waffenruhe im Libanon lange Autokolonnen in Richtung Süden bildeten und viele Bewohner in die halb zerstörten südlichen Vorstädte Beiruts zurückkehrten – für zahlreiche Flüchtlinge ist die Zukunft nach wie vor ungewiss.

Über 900.000 Menschen sind nach UN-Schätzungen durch die Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hisbollah vertrieben worden. Ihre Erfassung ist schwierig, gibt auch die libanesische Sozialministerin Nayla Moawad zu, da rund zwei Drittel von ihnen bei Verwandten oder Bekannten, in Kirchen und Moscheen oder in verlassenen Häusern Unterschlupf gefunden haben.

Schulen als Flüchtlingsunterkünfte

Andere sind in den über 800 Schulen im ganzen Land untergekommen – allein ihre Zahl beläuft sich auf rund 145.000. Alle Schulen in Beirut haben ihre Tore für die Menschen geöffnet, die aus dem Südlibanon oder aus der südlichen Vorstadt geflohen sind. Selbst in den Palästinenserlagern um Saida, in denen große Armut herrscht, sind Flüchtlinge in Schulen untergebracht.

Die meisten haben so immerhin ein Dach über dem Kopf, ihre Versorgung ist jedoch schwer zu gewährleisten: Vor allem der Wasserverbrauch von oft mehreren hundert Menschen in einem Schulgebäude übersteigt meist die Kapazitäten der Einrichtungen.

Parteien und politische Gruppierungen haben in vielen Fällen die Verwaltung einer Schule inoffiziell übernommen. Sie kümmern sich entweder selbst oder zusammen mit Nichtregierungsorganisationen und spontan entstandenen humanitären Gruppen um die Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrung, Bettzeug, Hygieneartikeln und Kleidern.

Die libanesische Regierung hat zur Organisation der Hilfe und Verteilung der Spenden ein staatliches Komitee eingerichtet, die "Higher Relief Commission" (HRC). Seitens der Nichtregierungsorganisationen gibt es jedoch Kritik an der Arbeit der Kommission, die als zu schwerfällig gilt.

Das weist Gaby Kattini von der HRC jedoch zurück. Es sei Aufgabe des Sozialministeriums unter Nayla Moawad, die Arbeit der NGOs zu koordinieren – angefangen bei der Erarbeitung eines einheitlichen Fragebogens, um die Situation und die Bedürfnisse der Flüchtlinge zu ermitteln. Der wurde aber erst vor ein paar Tagen fertig.

Politische Instrumentalisierung

Ein anderes Problem, mit dem die Kommission zu kämpfen hat, ist der Versuch von Parteien und politischen Organisationen, die Hilfslieferungen des libanesischen Staates als ihre eigenen Spenden an die Flüchtlinge auszugeben, wofür sogar die Aufkleber auf den Verpackungen ausgetauscht werden – damit steht der Staat untätiger da, als er in Wirklichkeit ist.

Zudem sind mehrfach Waren aus Hilfslieferungen verschwunden und im normalen Handel aufgetaucht. "Wir können aber keine eigene Untersuchungskommission dazu einrichten", so Kattini resigniert.

Wie viele Flüchtlinge nach einem endgültigen Ende der Kampfhandlungen in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren können, ist bisher schwer abzuschätzen; möglicherweise wird es weniger als die Hälfte sein.

Wohnungen, Häuser und ganze Dörfer sind durch Luftangriffe und Gefechte zerstört, und selbst wenn ein Haus noch intakt sein sollte, wird es längst nicht in allen Ortschaften möglich sein, Strom-, Wasser- und Lebensmittelversorgung zu gewährleisten. Zudem sind mit der Zerstörung von Fabriken, Feldern und Infrastruktur auch zahlreiche Arbeitsplätze vor Ort verschwunden.

Die "Higher Relief Commission" arbeitet nun an einem Plan, um die verbleibenden Flüchtlinge anderweitig unterzubringen, wenn im September das neue Schuljahr beginnt. "Lager sind keine Lösung", meint Gaby Kattini, "damit haben wir Libanesen ein psychologisches Problem. Das erinnert uns zu sehr an die Situation der Palästinenser."

Wenn sich die Lage im Südlibanon endgültig beruhigt hat, könnten dauerhafte Unterkünfte in der Nähe der Orte gebaut werden, aus denen die Vertriebenen kommen, hofft er.

Sympathieträger Hisbollah

Kritiker zweifeln jedoch daran, dass der Staat den Rückkehrern ausreichend Hilfe zur Verfügung stellen kann oder ob nicht sowohl in der südlichen Vorstadt Beiruts, als auch im Südlibanon die bereits bestehenden Hilfsorganisationen der Hisbollah den Löwenanteil des Wiederaufbaus übernehmen und sich damit viele Sympathien sichern werden.

Zumal für die meisten vertriebenen Schiiten die Hisbollah ihre einzige wirkliche Vertretung ist. Sie halten die Geiselnahme von zwei israelischen Soldaten, die den Krieg auslöste, für völlig gerechtfertigt. Oft wird die libanesische Regierung für die mangelnde Versorgung kritisiert; Kritik an der "Partei Gottes" ist dagegen unter den Flüchtlingen kaum zu hören.

Wer nicht den Sieg der Hisbollah erklären und Generalsekretär Hassan Nasrallah Gottes Schutz wünschen will, der sagt höchstens, dass er nicht über Politik reden und einfach nur in Frieden nach Hause zurückkehren möchte.

Anne Françoise Weber

© Qantara.de 2006

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