Khashoggi-Krise verändert das Kräfteverhältnis zwischen Ankara und Riad

Seitdem der saudische Journalist Jamal Khashoggi im Konsulat seines Landes in Istanbul verschwunden ist, hat die Türkei eine ausgeklügelte Doppelstrategie verfolgt: Während die türkischen Medien ständig den Druck auf Saudi-Arabiens Führung erhöhten, vermied es Präsident Recep Tayyip Erdogan, Riad die Schuld zu geben und einen offenen Bruch zu provozieren. Mit dieser Strategie gelang es, seine eigene Position in der Region zu stärken.

"Der Mord an Khashoggi hat Erdogan eine goldene Gelegenheit verschafft, Saudi-Arabien unter Druck zu setzen und die Türkei als neuen Anführer der muslimischen Welt erscheinen zu lassen", sagt die Regionalexpertin Lisa Khatib vom Politikinstitut Chatham House. Sollte die Türkei einen Beweis für die Verwicklung von Kronprinz Mohammed bin Salman in den Mord haben, könne dies den Einfluss des Königreichs in der Region sogar auf längere Zeit beschneiden.

Erdogan hat die Tötung Khashoggis am 2. Oktober im saudischen Konsulat in Istanbul als "politischen Mord" bezeichnet, der von höchster Ebene in Riad angeordnet wurde, es aber bisher vermieden, direkt mit dem Finger auf Kronprinz bin Salman zu zeigen. Zugleich veröffentlichten türkische Medien allerdings ständig neue Details aus den Ermittlungen, die auf eine direkte Verwicklung des 33-jährigen Thronfolgers hindeuten.

Bisher erscheint es unwahrscheinlich, dass der Kronprinz über den Skandal fällt, doch ist sein Ansehen im Ausland auf lange Sicht beschädigt. Zu schwer wiegt der Verdacht, dass er dem Mordkommando den Befehl erteilte, seinen unbequemen Kritiker zu beseitigen. Die Türkei dagegen, die sonst selbst wegen der Verfolgung von Journalisten in der Kritik steht, kann sich in diesem Fall als Verteidiger des Rechts profilieren.

"Die Khashoggi-Krise hat wichtige geopolitische Implikationen für die Türkei, die die Affäre meisterlich dirigiert", sagt die Regionalexpertin Khatib. Offenbar wolle Erdogan den Druck auf Kronprinz bin Salman möglichst lange aufrechthalten, um politische Zugeständnisse zu erzwingen. Zwar unterhalten Riad und Ankara offiziell freundschaftliche Beziehungen, doch liegen sie bei einer Reihe von Fragen seit Jahren über Kreuz.

Für Nicolas Heras ist die Khashoggi-Krise "das letzte Kapitel im Ringen der Türkei und Saudi-Arabiens um die Führung in der muslimischen Welt". Offenbar glaube Erdogan, dass er die Affäre nutzen könne, um Saudi-Arabien zu schwächen, sagt der Forscher vom Center for New American Security. Erdogan versucht schon lange, sich als Verteidiger der Muslime zu profilieren und der Familie Al Saud die Rolle als Hüter des Islam streitig zu machen.

Ein weiterer zentraler Streitpunkt zwischen den beiden Ländern sind die Muslimbrüder. Während Saudi-Arabien, Ägypten und ihre arabischen Verbündeten am Golf die islamistische Bewegung als Bedrohung betrachten und sie als Terrororganisation verboten haben, hält Erdogan bis heute an der Unterstützung der Bruderschaft fest, der er ideologisch eng verbunden ist.

Nach Ansicht des türkischen Politologen Soner Cagaptay vom Washington Institute of Near East Policy sieht Erdogan die Khashoggi-Krise als Chance, sich dem Dreierbündnis aus Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman, Abu Dhabis Kronprinz Mohammed bin Sajed und dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi entgegenzustellen, die sich seiner Politik zugunsten der Muslimbrüder widersetzen.

Auch im Streit Saudi-Arabiens mit Qatar will die Türkei Zugeständnisse erreichen. Nachdem Riad im Juni 2017 mit seinen Verbündeten eine Blockade gegen das ölreiche Emirat verhängt hatte, da es ihren Anti-Iran-Kurs nicht voll mittragen wollte, sprang die Türkei mit Lebensmittellieferungen ein. Seitdem haben die beiden Länder ihre militärische Kooperation ausgebaut, und Katar investiert verstärkt in der Türkei. Bei der Qatar-Blockade dürfte die Türkei nun gegenüber Riad auf eine rasche Lockerung dringen. (AFP)