Tahsin Beg - der letzte Prinz der Jesiden?

Tahsin Beg war Anführer eines verfolgten, in alle Welt zerstreuten Volkes. Der Prinz der Jesiden starb im Exil in Deutschland. Am Wochenende wurde er im Nordirak beerdigt. Ein Nachruf von Peter Hille

Als eine der dunkelsten Stunden über sein Volk hereinbrach, war Tahsin Beg bereits seit 70 Jahren Anführer der Jesiden. Die Dschihadistenmiliz des sogenannten Islamischen Staats (IS) versklavte, vergewaltigte und ermordete 2014 Tausende Jesidinnen und Jesiden im Norden des Irak. Aus dem Exil, überwiegend in Deutschland, versuchte Tahsin Beg, als politischer Anführer seinem Volk zu helfen. Er richtete Appelle an die Weltgemeinschaft, forderte Schutztruppen. Doch auch Tahsin Beg konnte die Katastrophe nicht stoppen.

"Kein Ereignis hat ihn so gefordert wie der im August 2014 durch den Islamischen Staat begangene Völkermord an den Jesiden im Sinjar-Gebiet", teilt der Zentralrat der Jesiden in Deutschland anlässlich des Todes von Tahsin Beg mit. Er war am letzten Montag nach langer Krankheit im Siloah-Krankenhaus im Alter von 85 Jahren in Hannover gestorben. Bis zuletzt habe er daran gearbeitet, den geflohenen Jesiden die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen. Dieses Ziel habe er "bis zuletzt mit großer Energie verfolgt, doch blieb ihm der Erfolg verwehrt", so der Zentralrat.

Die jesidische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad schrieb auf Twitter, Tahsin Beg sei ein "weiser Anführer mit festem Glauben an den Frieden" gewesen. Mit Anstand und Würde habe er sein Volk in schwierigen Zeiten angeführt. Murad war selbst vom IS versklavt worden. Vergangenen Monat nahm sie für ihren Kampf gegen sexuelle Gewalt den Nobelpreis entgegen.

Tahsin Beg wurde 1933 im Norden des Irak geboren. Als sein Vater Said Beg 1944 starb, wurde er bereits im Alter von elf Jahren zu seinem Nachfolger ernannt, zum so genannten Mir, zum Prinzen der Jesiden. Dieser soll die kurdischsprachige Minderheit in weltlichen Fragen vertreten und ihr Überleben sichern. Denn im Laufe ihrer Geschichte, die bis weit in die Antike zurück reicht, waren die Jesiden immer wieder Ziel von Verfolgung und Vertreibung.

Ihr Glaube ist mit Islam, Judentum und Christentum verwandt, kennt jedoch weder Teufel noch Hölle. Es gibt zudem keine heilige Schrift wie den Koran oder die Bibel, in der Glaubenslehren festgehalten sind. Aus mündlicher Überlieferung glauben Jesiden an Seelenwanderung und Wiedergeburt. Dem IS gelten die bis zu eine Million Jesiden deshalb als "Ungläubige". Doch auch vor Erstarken der Dschihadisten wurden sie als kurdische Minderheit verfolgt.

"Tahsin Beg hat sich schon in den 1970er Jahren auf die Seite der kurdischen Peschmerga gegen Saddam Hussein gestellt", sagt der Orientalist Jan Ilhan Kizilhan, der selbst zur jesidischen Gemeinschaft in Deutschland gehört. "Er musste in den Iran fliehen, wurde später Ziel eines Attentats und ging dann weiter nach England", erläutert Kizilhan im Gespräch mit der DW. Zuletzt lebte Beg überwiegend in Deutschland, so wie etwa 150.000 andere Jesiden auch.

Angesichts des Völkermords ab 2014 sei Tahsin Beg jedoch "sehr hilflos und ohnmächtig gewesen", sagt Kizilhan. Er sei aufgrund seiner Krankheit weder während noch nach dem Genozid in der Lage gewesen, sein Volk zu führen: "Er ist möglicherweise der letzte Prinz der Jesiden, weil seine Nachfolger aufgrund des Genozids durch den IS Schwierigkeiten haben werden, dieses Volk wieder zu sammeln und ihm eine Perspektive zu geben." Bei den Jesiden in Deutschland herrsche angesichts des Todes ihres Anführers große Betroffenheit, sagt Kizilhan. Eine Epoche gehe zu Ende. Die Jesiden in Deutschland hatten am vergangenen Mittwoch Gelegenheit, sich im Rahmen einer Trauerfeier in Hannover von Tahsin Beg zu verabschieden.

Ein Großteil der Jesiden lebt nach wie vor sehr traditionell, teilweise in patriarchalischen Strukturen. Die Gemeinschaft müsse sich nun den Herausforderungen der globalisierten Welt stellen, sagt Kizilhan. Das betreffe insbesondere das Kastensystem sowie die Heiratsregeln, die zu einer sozialen Isolierung der Jesiden beitragen. Eine Ehe mit Angehörigen anderer Kasten oder gar Nicht-Jesiden gilt als Tabu. "Der neue Prinz muss die Regeln und Strukturen reformieren", so Kizilhan: "Das ist eine große Herausforderung."

Medienberichten zufolge hat Tahsin Beg seinen Sohn Hasem als Nachfolger bestimmt. Laut Kizilhan wird sich der "Hohe Rat der Jesiden" nun mit der Fürstenfamilie beraten, um in den kommenden Tagen oder Wochen einen neuen Prinzen zu bestimmen. Neben dem weltlichen Führer steht nach wie vor der religiöse Führer, der "Baba Scheich" der Jesiden.

Der "Baba Scheich" spricht auch bei der Beerdigung Tahsin Begs das Totengebet, die in der Nähe der Stadt Duhok in Baadre stattfindet - mit Waschungen, Reinigungszeremonien und Gebeten. Tausende, vielleicht hunderttausende Jesiden, sagt Orientalist Kizilhan, würden dazu erwartet. Auch Kizilhan selbst will dem politischen Führer seines Volkes die letzte Ehre erweisen und in den Nordirak reisen. (DW)