Langfristiger Reifeprozess

Die tunesische Opposition ist zersplittert, ein politischer Konsens momentan noch nicht in Sicht. Ein schneller Übergang in eine demokratische Post-Ben-Ali-Ära ist daher nicht zu erwarten. Eine Analyse von Sigrid Faath

Demonstration gegen Ben Ali in Tunesien; Foto: dpa
Kleinster gemeinsamer Nenner der Opposition und der Protestbewegung: Demonstration gegen Ben Ali und die Regierungspartei RCD

​​Die tunesische Bevölkerung galt bis Dezember 2010 als wenig politisiert, militantem Verhalten abgeneigt und kompromissbereit. Im Dezember 2010 leiteten soziale Proteste eine Wende ein: soziale Forderungen mündeten in Kritik an der Politik der Staatsführung.

Der seit 1987 regierende Staatspräsident und seine als korrupt geltenden Familienangehörigen und Verwandten wurden zur Zielscheibe des Unmuts, die Forderungen wurden konkret politisch. Ben Ali wurde aufgefordert zu gehen. Überraschend war dann aber am 14. Januar die Bekanntgabe, dass er tatsächlich sein Amt niedergelegt hatte und außer Landes war.

Die Amtsgeschäfte gingen am 15. Januar verfassungsgemäß auf den Präsidenten der zweiten Kammer des Parlaments, Fuad Mbazaa, über. Er beauftragte den weiterhin amtierenden Premierminister Mohamed Ghannouchi mit der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, deren nächste Aufgabe es sein wird, Präsidentschaftswahlen vorzubereiten.

Bereits bei der Regierungsbildung zeigte sich, wie problematisch es ist, politisch erfahrene personelle Alternativen für die bisher von der staatstragenden Partei RCD gestellten Politiker zu finden.

Systematische Schwächung der Opposition

Tunesien wird seit der Unabhängigkeit 1956 faktisch von einer Partei regiert, obwohl es laut Verfassung ein Mehrparteiensystem hat. Mit der Machtübernahme Präsident Ben Alis 1987 wurde die staatstragende Partei in RCD umbenannt und organisatorisch u.a. durch die Förderung des Nachwuchses und von Frauen gestärkt.

Oppositionsparteien und Menschenrechtsvereinigungen oder Initiativen von Juristen, Rechtsanwälten zugunsten von Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Justiz wurden hingegen systematisch behindert. Sehr schnell interpretierte die Staatsführung auch konstruktive Reformvorschläge – selbst solche, die aus der Regierungspartei selbst kamen – als illoyales Verhalten und reagierte mit Sanktionen.

Tunesiens Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi; Foto: AP
Erklärte inzwischen seinen Austritt aus der RCD-Regierungspartei: Tunesiens Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi

​​Dieses Verhalten kennzeichnet die Ära des ersten tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba genauso wie die seines Nachfolgers Ben Ali.

Die organisatorische und programmatische Schwäche der Oppositionsparteien und das wenig ausgeprägte politische Profil ihrer Führungsspitze, die nur marginale Verankerung in der Bevölkerung, das geringe Interesse, das die jüngere Generation an diesen Parteien zeigt, erklärt sich aus diesen wenig förderlichen Umfeldbedingungen.

Daran änderte sich auch nichts, als 1993 den Parteien finanzielle Zuwendungen für die Organisation der Wahlkampagne und die jeweilige Parteipublikation gewährt wurden. 1994 entschloss sich die Staatsführung erstmals, 19 Sitze für Oppositionsparteien in der ersten Kammer des Parlaments zu reservieren. Aus "eigener Kraft" hätte es keine Partei ins Parlament geschafft.

Die Zusammensetzung der Opposition

Seit den letzten Legislativwahlen 2009 sind von acht staatlich zugelassenen Oppositionsparteien sechs in die erste Kammer des Parlaments eingezogen und besetzen insgesamt 53 von 214 Sitzen.

Es handelt sich bei diesen Parteien um die Bewegung der Sozialistischen Demokraten (MDS), die Partei der Volkseinheit (PUP), die Unionistische Demokratische Union (UDU), die Sozialliberale Partei (PSL), die Partei der Grünen für den Fortschritt (PVP) und die Bewegung "Ettajdid" (Bewegung der Erneuerung). Diese Parteien unterstützten bislang das Programm der Regierungspartei bzw. das Programm des Präsidenten.

Sie traten allerdings – wie die nicht im Parlament vertretenen beiden Oppositionsparteien Demokratische Partei für den Fortschritt (PDP) und Tunesische Front für Demokratie und Freiheit (FTDL) – grundsätzlich für politische Liberalisierung und Reformen ein. Ein starkes Profil und ausdifferenzierte Programme zeichnen sie nicht aus.

Moncef Marzouki; Foto: AP
Von seinen Anhängern begeistert gefeiert: Der Oppositionspolitiker Moncef Marzouki vom "Republikanischen Kongress"</wbr> (CPR), der als erster seine Kandidatur bei der angekündigten Präsidentschaftswahl erklärt hatte, kehrte nach Tunesien zurück.

​​Es sind in erster Linie "Hauptstadtparteien", ohne ausgeprägte Verankerung in anderen Landesteilen. Ein weiteres Kennzeichen ist die starke Personalisierung der Führung und daraus resultierende Querelen.

Die in den 1980er bis Mitte der 1990er Jahre einflussreichere islamistische Oppositionsorganisation "Ennahda", deren ehemaliger Führer Rachid Ghannouchi aus dem britischen Exil vermeldete, er würde für eine Regierung der nationalen Einheit bereit stehen, ist organisatorisch zerschlagen.

Die Kommunistische Partei der Tunesischen Arbeiter (PCOT) ist eine marginale Größe. Menschenrechtsaktivisten und einzelne Kritiker des Regimes, Journalisten, Rechtsanwälte, Richter sammelten sich in eigens gegründeten Vereinigungen oder Berufsorganisationen, deren Aktivitäten systematisch unterbunden wurden. Ähnliches gilt für den Gewerkschaftsverband UGTT und dessen regierungskritischen Flügel.

Raum für autonome, zivilgesellschaftliche Organisationen wurde vom Staat nicht eingeräumt. Wenn eine Vereinigung nicht ständig durch die Administration behindert werden wollte, durfte sie sich nicht als Korrektiv zur Staatsführung verstehen. Erwartet wurde, dass zugelassene Vereinigungen – wie die zugelassenen Parteien – die Grundpositionen der Staatsführung teilen und darüber hinaus auch aktiv deren Politik unterstützen oder sich zumindest neutral verhalten.

Dasselbe galt für die Medien und Journalisten und natürlich auch für Betreiber privater Radio- und Fernsehsender, nachdem ab 2003 hier erstmals private Initiativen erlaubt wurden.

Wie geht es weiter?

Tunesien hat seit der Unabhängigkeit einen erfolgreichen Staatswerdungsprozess durchlaufen und eine nationale tunesische Identität herausgebildet. Gescheitert ist das Land – wie viele seiner Nachbarländer – bei der Schaffung von Möglichkeiten zur institutionalisierten Auseinandersetzung mit differierenden Meinungen und Forderungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen.

Demonstranten demonstrieren in Tunis gegen die neue Übergangsregierung; Foto: dpa
Quo vadis Tunesien? Die Hoffnungen auf eine Stabilisierung der Lage in dem Maghrebland hatten am Dienstag (18.1.) einen Rückschlag erlitten: In Tunis und anderen Städten demonstrierten Tausende gegen die Übergangsregierung, in der Gefolgsleute des gestürzten Präsidenten Ben Alis Schlüsselpositionen einnehmen.

​​Das Ende der Ära Ben Ali eröffnet eine neue Chance, diesen Prozess nachzuholen. Es wird jedoch ein Prozess sein, der Zeit, Geduld und Kompromissbereitschaft fordert. Noch fordern etliche Protestierende eine Art Tabula Rasa in Bezug auf die Regierungspartei RCD.

Als am 17. Januar die Zusammensetzung der Regierung der nationalen Einheit bekannt gegeben wurde, befriedigte dies nicht alle Protestierende. Kritisiert wird, dass immer noch die Schlüsselministerien von RCD-Mitgliedern gehalten werden und nur drei Repräsentanten legaler Oppositionsparteien (FTDL, PDP, Bewegung "Ettajdid") und drei Gewerkschaftsvertreter und einige Unabhängige aufgenommen wurden. Die drei Gewerkschaftsvertreter und zwei weitere Minister sind bereits einen Tag später wieder aus der Regierung ausgetreten.

Das Bild der Opposition ist insgesamt disparat. Das Verhältnis zur "alten" Staatsführung war insbesondere bei den Parteien sehr ambivalent. Die Vorstellungen über die Zukunft des Landes dürften ebenfalls sehr unterschiedlich ausfallen, vor allem wenn Kompromissbereitschaft gefordert wird, um die Zukunft durch Reformen der alten Strukturen mit der gleichfalls zur Selbstreform aufgeforderten bisherigen Regierungspartei RCD zu gestalten.

Eine Option, die – wie es den Anschein hat – momentan von dem Übergangspräsidenten mit der Regierung der nationalen Einheit umgesetzt werden soll.

Es ist zu früh, um den Anteil der unterschiedlichen oppositionellen Kräfte an der Gestaltung der Zukunft ermessen zu können. Die Forderungen der weiterhin Protestierenden sind noch sehr plakativ und zielen auf die Abschaffung bzw. Entmachtung des RCD. Es gibt andere Stimmen, die sich für eine Kompromisslösung aussprechen.

Ein Konsens ist momentan nicht in Sicht. Ein schneller Übergang in eine Post-Ben-Ali-Ära ist nicht zu erwarten. Daher sind negative Auswirkungen auf die Wirtschaft, vor allem den Tourismussektor und den Industriestandort Tunesien, kaum zu vermeiden.

Sigrid Faath

© Qantara.de 2011

Die Politikwissenschaftlerin Dr. Sigrid Faath ist Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Zu ihren Fachgebieten gehören u.a. die Innen- und Außenpolitik der Maghrebstaaten sowie die Euromediterrane Partnerschaft.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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