Eine jemenitische Stammesangelegenheit

Der Machtkampf im Jemen ist vor allem ein Konflikt zweier Familien: Auf der einen Seite jene von Präsident Salih, der seinen Platz aus freien Stücken nicht räumen will, auf der anderen die Familie Ahmar, die der Stammeskonföderation der Hashed vorsteht. Von Rainer Hermann

Dossier von Rainer Hermann

Das nächste Kapitel des jemenitischen Machtkampfs entscheidet sich in Saudi-Arabien: Präsident Ali Abdullah Salih, der in einem Krankenhaus in Riad erfolgreich operiert worden ist, hat schon seine Rückkehr in den Jemen ankündigen lassen.

In Sanaa teilte der stellvertretende jemenitische Informationsminister Abdu al Dschanadi mit, Salih sei bei guter Gesundheit und werde zurückkehren; "eines Tages" werde er sein Amt in einer Form abgeben, wie es die Verfassung vorsehe.

Ein saudischer Regierungssprecher sagte, Salih könne nach zwei Wochen seine Amtsgeschäfte wiederaufnehmen. Dabei ist aber keineswegs gewiss, dass Saudi-Arabien dem Patienten in den kommenden Wochen eine Rückkehr als Staatspräsident erlauben wird.

Salih hatte in den vergangenen Wochen wiederholt die Saudis vor den Kopf gestoßen, als er sich weigerte, die saudischen Vorschläge für einen ehrenvollen Abgang anzunehmen. Salihs Zukunft liegt nun in ihrer Hand.

Jemens Präsident Ali Abdullah Salih; Foto: AP
Gibt sich noch immer siegesgewiss und will seinen Posten nicht räumen: Jemens Präsident Ali Abdullah Salih

​​In dem Machtkampf hatten ohnehin jene die Oberhand gewonnen, mit denen Saudi-Arabien eng zusammenarbeitet: mit der Familie Ahmar, die der Stammeskonföderation der Hashed vorsteht, und dem General Ali Muhsin al Ahmar, zu dem der saudische Kronprinz und Verteidigungsminister Sultan Bin Abdalaziz Al Saud enge Beziehungen unterhält.

Aus freien Stücken will Salih seinen Platz allerdings nicht räumen. Der Nachrichtensender Al Arabiya berichtete, die Saudis und Amerikaner hätten am vergangenen Samstagabend (4. Juni) versucht, den Präsidenten vor seiner Abreise zur Unterzeichnung eines Dekrets zu bewegen, in dem er die Vollmachten während seiner Abwesenheit an seinen Stellvertreter Abdurrabbo Mansur Hadi abtritt. Salih soll sich in den sich Stunden hinziehenden Verhandlungen geweigert und nur einer mündlichen Zusicherung bereit erklärt haben.

Hadi als Übergangskandidat

Seither amtiert der 1945 in der südjemenitischen Provinz Abyan geborene General Hadi als Staatspräsident und Oberbefehlshaber der Armee. Er ordnete den Rückzug der Armee aus den umkämpften Vierteln der Hauptstadt an, so dass der von Saudi-Arabien vermittelte Waffenstillstand in Kraft treten konnte. Gleichzeitig zog Scheich Sadiq al Ahmar die Krieger seiner Stammesmiliz aus den besetzten Regierungsgebäuden und Straßen von Sanaa zurück. Die Waffenruhe hielt auch am Montag (6. Juni) weitgehend.

Wie auch immer sich die Saudis gegenüber Salih verhalten: Hadi ist nur eine Übergangsfigur. Auch wenn er seit 1994 im Amt ist, hat er nie eine eigene Hausmacht aufgebaut. Auch hat er nie den Ehrgeiz gezeigt, ins höchste Staatsamt aufzusteigen.

Jubel nach Salihs vorübergehender Ausreise nach Saudi-Arabien; Foto: AP
Jubel nach Salihs vorübergehender Ausreise nach Saudi-Arabien: Die Proteste gegen den Staatschef dauern inzwischen mehr als zwei Monate. Über 100 Menschen wurden bisher getötet, weitere Tausende verletzt

​​Sollte Saudi-Arabien den von Salih dreimal zurückgewiesenen Vermittlungsvorschlag für eine Machtübergabe wieder auf den Tisch bringen, müsste Hadi bald eine Übergangsregierung einsetzen und binnen 60 Tagen eine Neuwahl des Präsidenten abhalten. Erst dann würde sich zeigen, ob die Ära Salih auch wirklich vorbei ist.

Drei Lager könnten die wichtigsten Kandidaten präsentieren: das offizielle Bündnis der Oppositionsparteien, die Familie Ahmar und die Familie Salih. Das oppositionelle Bündnis der sechs "Parteien des gemeinsamen Treffens" wird voraussichtlich einen Kandidaten aus dem zuletzt unter Salih marginalisierten Südjemen nominieren, um einen Neuanfang zu markieren. Als einer der Favoriten gilt Yassin Numan, der Vorsitzende der sozialistischen Partei.

Im Mittelpunkt steht indes der anhaltende Machtkampf zwischen den Familien Ahmar und Salih. Die siegreiche Partei wird entscheiden, wer neuer Präsident wird. Bis zum Tod von Abdullah al Ahmar 2007 im saudischen Dschidda waren sich die Oberhäupter der beiden Familien auf Augenhöhe begegnet, auch wenn der aus ärmsten Verhältnissen stammende Karrieresoldat Ali Abdullah Salih in der Stammeshierarchie nie eine Rolle gespielt hat.

Er überließ aber Abdullah al Ahmar wirtschaftliche Pfründe, so dass der seiner Rolle als großzügiger Scheich erfüllen konnte, und er ließ ihn als den zweitmächtigsten Mann im Jemen gewähren.

Beginnende Entfremdung

Auf Abdullahs zehn Söhne blickte Salih aber mit Verachtung. Ihnen entzog er Schritt um Schritt Macht, um sie seinem ältesten Sohn Ahmad zu übertragen sowie seinen drei Neffen Yahya, Ammar und Tariq Salih. Für sie schuf er neue Einheiten in den Streitkräften und den Sicherheitsdiensten.

Damit setzte auch eine Entfremdung zwischen ihm und seinem vier Jahre jüngeren Halbbruder und General Ali Muhsin al Ahmar ein, der ihm 1979 bei einem Attentatsversuch das Leben gerettet hatte. Im März entzog er Salih öffentlich seine Loyalität und schloss sich dem "Scheich der Scheichs" der Hashed an – er stellte sich mit seiner Ersten Division an die Seite von Scheich Sadiq al Ahmar.

Noch zeichnet sich aber nicht ab, ob der wenig charismatische Sadiq al Ahmar, der erst in diesem Jahr an politischem Format gewonnen hatte, selbst das höchste Staatsamt anstrebt. Er könnte es auch seinem jüngeren Bruder Hamid überlassen, der ein politisches Naturtalent ist. In jedem Fall werden sie die Scheichs der Familie Ahmar und auch General Ali Muhsin zu verhindern versuchen, dass – etwa als Kandidat von Salehs Staatspartei des "Allgemeinen Volkskongresses" – ein Sohn oder Neffe des seit 1978 amtierenden Salih Präsident wird.

Die Stunde der jungen Aktivisten, die den Stein ins Rollen gebracht haben, hat noch nicht geschlagen. Da ein Stamm einem Einzelnen mehr Sicherheit und Gerechtigkeit bietet als der Staat, bleiben die Stämme weiter wichtig.

Die Jugendlichen lösen sich aber von diesen traditionellen Wertvorstellungen. Ihre Stimme wird erst Gewicht haben, wenn sie ihren Anteil am Aufbau des Staats geleistet haben und dieser auch funktioniert. Ihr Verdienst ist zunächst nur, dass sie den "arabischen Frühling" zu einem weiteren Erfolg geführt haben.

Rainer Hermann

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de