Flucht aus der Türkei: Viele Menschen suchen Asyl in Deutschland

Im Jahr des gescheiterten Putschversuchs in der Türkei - 2016 - schnellt die Zahl der türkischen Asylbewerber hierzulande in die Höhe. Mittlerweile stehen Türken auf Platz drei in der Asylstatistik. Wer sind diese Menschen? Von Martina Herzog und Christine-Felice Röhrs

Syrien, Irak, Iran, Afghanistan - in den wichtigsten Herkunftsländern von Asylsuchenden in Deutschland herrschen Krieg, Gewalt oder zumindest Unterdrückung. Doch die Liste ist unvollständig: Auf Platz drei stand im vergangenen Jahr die Türkei - ein Nato-Staat, zumindest formell auch weiterhin ein Kandidat für den EU-Beitritt. Wie kann das sein?

Sibel Yigitalp kommt in Fahrt, wenn sie auf die politische Lage in der Türkei zu sprechen kommt. Das türkische Volk stecke in einer Sackgasse - politisch, gesellschaftlich, was die Stellung der Frau angehe, sagt die frühere Abgeordnete der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP. Der HDP, die eine legale Partei ist, wirft Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein - was die HDP zurückweist. Auch auf die Absetzung von HDP-Bürgermeistern kommt Yigitalp zu sprechen. Sie redet Türkisch beim Treffen in einem Berliner Café, eine Bekannte übersetzt.

Im Sommer 2018 ist die heute 48-Jährige nach Deutschland gekommen und hat sehr schnell, in knapp zwei Monaten, Asyl erhalten, wie sie erzählt. Das habe wohl nicht zuletzt daran gelegen, dass ihr Fall für die deutschen Behörden recht offensichtlich war. In der Türkei laufe gegen sie ein Prozess wegen Terrorvorwürfen, sagt Yigitalp.

Wobei man wissen muss, dass der türkische Staat mit solchen Anklagen schnell bei der Hand ist. Insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 reißt die Serie der Fahndungen, Festnahmen und Prozesse nicht ab. Das richtet sich zum einen gegen Menschen mit angeblichen Beziehungen zur Bewegung um den islamischen Prediger Fethullah Gülen. Dem wirft die Regierung vor, hinter dem Putschversuch zu stecken. Mehr als 500.000 Menschen wurden offiziellen Angaben nach deshalb festgenommen, weitere Festnahmen gibt es jede Woche; nicht immer ist klar, wie lange die Menschen in Haft sind oder waren.

Innenminister Süleyman Soylu sagte im März 2019, dass wegen Gülen-Verbindungen 30 821 Menschen im Gefängnis säßen. Dazu kommen die, die ihre Jobs verloren haben. Allein aus dem Verteidigungsministerium hieß es jüngst, dass bisher rund 18.600 Mitglieder der Streitkräfte ihrer Posten enthoben seien. Andererseits geht der Staat aber immer wieder auch gegen Regierungskritiker vor - unter ihnen Menschenrechtsaktivisten, Journalisten oder Oppositionspolitiker.

Die Türkei hat sich verändert in den vergangenen Jahren. 2016 schnellte die Zahl der Asylanträge in die Höhe. Das weitaus wichtigste Zielland in Europa ist Deutschland. Lange seien Asylsuchende aus der Türkei eher dem linksliberalen oder kurdischen Spektrum zuzuordnen gewesen, sagt der Direktor des Zentrums für Türkeistudien der Universität Duisburg Essen, Haci-Halil Uslucan.

«Jetzt kommen auch viele konservative Anhänger der Gülen-Bewegung, die bezichtigt werden, Mitverursacher des Putsches zu sein.» 10.784 Türken haben im vergangenen Jahr erstmals einen Asylantrag hierzulande gestellt. Rund die Hälfte von ihnen erhielt Schutz, wenn man Verfahren ausklammert, die sich etwa aus formalen Gründen erledigt haben. Die meisten dürfen bleiben, weil ihnen in der Türkei nach Einschätzung der Behörden Verfolgung droht. Im Januar lag das Land mit 779 Erstanträgen erneut auf Platz drei. Vielleicht kommen noch ein paar Anträge hinzu, weil bei dieser Zählung möglicherweise in Deutschland geborene Kinder Asylsuchender ausgeklammert sind.

Wer kommt, ist überdurchschnittlich gut qualifiziert. Fast 60 Prozent der volljährigen Erstantragsteller aus der Türkei hatten nach einer Analyse des Bamf für das Jahr 2018 einen Hochschulabschluss. Fast jeder Fünfte hatte zuletzt einen Lehrberuf ausgeübt.

Der Weg nach Deutschland bedeutet also für Türken noch mehr als für andere Geflüchtete häufig einen gesellschaftlichen Abstieg. «Der soziale Status eines Promovierten oder Professors ist in der Türkei viel, viel höher als hier. Hier legt man auch als Hochschulprofessor eher eine bescheidene Haltung an den Tag», sagt Wissenschaftler Uslucan. «Hinzu kommen aber hier auch Entwertungserfahrungen, die sich aus Bildern über «bildungsferne Türken» speisen.» 

Kein Mensch würde sein Land freiwillig verlassen, um wieder bei null anzufangen, meint die frühere HDP-Abgeordnete Yigitalp. Sie würde sich wünschen, dass die Leute in Deutschland mehr über die Gründe für Fluchtbewegungen nachdächten anstatt Schutzsuchende schräg anzugucken. Dazu gehöre auch die Frage nach der Verantwortung der Bundesrepublik, mit Waffenlieferungen oder der politischen Unterstützung für fragwürdige Regime.

Mit Menschen mit türkischen Wurzeln, die dem türkischen Präsidenten Erdogan oft recht wohlgesonnen sind, habe sie hingegen wenig Probleme, sagt die ehemalige HDP-Politikerin Yigitalp. «Den meisten türkeistämmigen Zuwanderern hier ist auch bewusst, dass die aktuelle türkische Regierung nicht immer rechtsstaatlich agiert», sagt Wissenschaftler Uslucan. Die Unterstützung für Erdogan habe weniger innenpolitische Gründe - «sie leben ja nicht in der Türkei», erklärt er. «Für sie ist er ihre Stimme nach außen. Er spricht ihre Sorgen und Nöte emotional an und ihr Gefühl, hier in Deutschland nicht ganz dazuzugehören, auch nach Jahrzehnten nicht als vollwertiger Bürger angenommen zu werden.»

Wenn sich die Lage in der Türkei ändere, werde sie dorthin zurückkehren, sagt Yigitalp. Sie hänge mit vollem Herzen an ihrem Heimatland. Doch derzeit reise sie nicht dorthin. Ihr könne bei der Einreise die Verhaftung drohen. Sie hätte gerne deutsche Freunde, mit denen sie reden und über Politik diskutieren kann, meint Yigitalp. Ein wichtiges Wort kann sie schon: Es sei alles gut organisiert, aber auch ziemlich «bürokratisch». (dpa)