Ein deutsches und ein türkisches Herz

Über Jahrzehnte berichtete der Journalist Baha Güngör sachlich und kenntnisreich aus aller Welt und insbesondere der Türkei. 2018 verstarb er. Nun erscheint sein letztes Buch – ein Lebensbericht und eine Bilanz des deutsch-türkischen Verhältnisses. Von Gerrit Wustmann

Von Gerrit Wustmann

"Nur wenn es der deutschen Gesellschaft gelingt, die Menschen nicht nach Hautfarbe oder Namen zu differenzieren und Fehlverhalten auf Herkunft zurückzuführen", könne die Integration gelingen, schrieb Baha Güngör, der 1961 im Alter von elf Jahren nach Deutschland kam, und der am Ende nur noch den deutschen Pass besaß. Die Türkei hatte ihn ausgebürgert.

Über Jahrzehnte habe sein deutsches mit seinem türkischen Herzen gerungen, und das deutsche Herz hat er "am Ende meines Lebens, am Ende auch so vieler Hoffnungen, gebändigt, und meinem türkischen Herzen, dem Halbmond und Stern, doch den Vorrang gegeben, obwohl ich es einmal anders geplant hatte."

Jenseits des massenmedialen Tons

Es sind einige der letzten Zeilen, die er schrieb, bevor er am 22. November 2018 in seiner Wahlheimat Köln starb. Mit ihm verstummte eine Stimme, die wir heute dringender denn je bräuchten. Als Kenner sowohl der deutschen als auch der türkischen als auch der deutsch-türkischen Verhältnisse. Baha Güngör war über Jahrzehnte ein besonnener Beobachter, der Ereignisse der Weltgeschichte begleitet und kommentiert hat und der sich kaum je auf das Marktschreierische, das Skandalisieren, das Verzerren einließ, das allzu oft den massenmedialen Ton prägt.

Nun erscheint jenes Buch, an dem er bis zum Schluss gearbeitet hat, an dem er noch schrieb, als er bereits schwer erkrankt war und den Optimismus, der ihn Zeit seines Lebens so sehr auszeichnete, verloren hatte: "Hüzün. Wie wir Deutsche wurden und Türken blieben". Er konnte es nicht mehr fertigstellen. Vier Teile sollte es haben, den Frühling, Sommer, Herbst und Winter eines bewegten Lebens nachzeichnen. Bis zum Winter kam er nicht mehr. Auf Bitten des Verlags ging die Feder an Lale Akgün, mit der er mehr als fünf Jahrzehnte eng befreundet war und mit der er in den letzten Wochen viele Gespräche geführt hatte.

Buchcover Baha Güngör / Lale Akgün: "Hüzün ... das heißt Sehnsucht. Wie wir Deutsche wurden und Türken blieben" im Dietz-Verlag
"Hüzün" ist ein Buch, das sich genau jenen Themen widmet, die Mehrheiten in Deutschland auch wenige Wochen nach Hanau am allerliebsten wieder ganz schnell verdrängen würden. Es macht deutlich, wie viel Arbeit noch vor uns allen liegt, dass menschliche und gesellschaftliche Annäherung immer von beiden Seiten kommen muss.

Trotzdem wirken die von Güngör selbst verfassten Kapitel rund, kommen zu einem Schluss, der für sich stehen kann. Der Blick von Lale Akgün - sehr persönlich, sehr freundschaftlich und sichtlich von dem Verlust eines nahestehenden Menschen gezeichnet - kann als Ergänzung, Anhang, zusätzliche Perspektive gelesen werden.

Strikte Verweigerung der Realitäten

Die Geschichte des Journalisten Baha Güngör, der im Laufe der Jahrzehnte für Tageszeitungen, Agenturen, Fernseh- und Radiosender gearbeitet und für mehrere Jahre auch als Korrespondent aus der Türkei berichtet hat, ist zugleich die Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland: als Land, das erst händeringend auf die "Gastarbeiter" angewiesen war, sie dann unbedingt wieder loswerden wollte und sich nach der Wende und im neuen Jahrtausend mit den Kaskaden an Fehlern konfrontiert sah – und sieht –, die es in der strikten Verweigerung der Realitäten seit den sechziger Jahren gemacht hat.

"Welches Motiv es auch immer war, die Heimat zu verlassen, fast alle wollten nach 'nur' ein paar Jahren zurück in die Türkei – dann, wenn sie genug Geld für ihre jeweiligen Ziele gespart hatten." So beschreibt Baha Güngör die Stimmung in den frühen Sechzigern. Und es gab durchaus viele, die genau das taten: Nach Deutschland gehen, Geld verdienen, dann zurück nach Anatolien, wo sie sich vom Angesparten ein Haus bauen, Land kaufen, ein Geschäft eröffnen konnten.

Doch viele andere gewöhnten sich an Deutschland, heirateten hier, bekamen Kinder, die deutsch aufwuchsen und beim Urlaub in der Türkei nicht als Türken, sondern als Deutsche empfangen wurden. Sie alle, so wird rasch deutlich, trugen und tragen die "zwei Herzen" in sich, die zwei Identitäten, die sich oft sogar in der dritten Generation nicht vereinen lassen. Egal, wie sehr die "Gastarbeiter", spätere türkische Migranten oder auch deren Kinder Deutsche werden wollten, es wurde ihnen von der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft verwehrt.

Stets die Ausländer geblieben

Für sie blieben sie stets die Ausländer, die Menschen mit der dunkleren Haut, den anderen Namen, der anderen Religion. Er liebte Köln so sehr wie Istanbul, und doch zog er diese Bilanz: "Das Verhalten der meisten Deutschen mir gegenüber habe ich als Beleidigung erlebt."

Obwohl es Güngör gelang, sich hochzuarbeiten und als Journalist Gehör zu finden, merkte er doch auch, dass man ihn in mehr als einer Redaktion von den Weltthemen oder deutscher Innenpolitik fernhielt und ihm stattdessen alles gab, was Türkei-Bezug hatte: "Ja, so fingen die Versuche an, mich daran zu erinnern, dass ich Türke bin."

Er hat diese Felder gerne beackert, aber das beständige "Othering" hat ihm dennoch zugesetzt, das spricht aus vielen der Anekdoten, die er berichtet. Zum Beispiel der von einem Istanbuler Simit-Händler in der Nähe seines Büros in der Altstadt, der ihn bei einem Wiedersehen nach mehreren Monaten so herzlich und überschwänglich begrüßt, der ihm so zugewandt und menschlich begegnet, während sich die Kollegen in Köln und Bonn nach mehreren Jahren Abwesenheit nicht mal im Ansatz für das interessieren, was er am Bosporus erlebt hat.

Eine Mischung aus Ablehnung und Gleichgültigkeit

Er beobachtet, wie die deutsche Politik den Türken mit einer Mischung aus Ablehnung und Gleichgültigkeit begegnet, was auch dazu führt, dass lange Zeit gar nicht wahrgenommen wird, wie sich islamistische und türkisch-nationalistische Gruppen breitmachen – und bei vielen von denen, die sich von der deutschen Gesellschaft abgelehnt fühlen, auf offene Ohren stoßen.

Interessanterweise war es die SPD, von der erste Warnungen in dieser Hinsicht kamen. Während die Union lieber wegschaute, beginnende Probleme ignorierte, indem sie noch bis ins neue Jahrtausend die Tatsache verleugnete, dass Deutschland ein Einwanderungsland war. Und ist. Und bleiben wird.

[embed:render:embedded:node:31939]Diese Haltung, zusammen mit Helmut Kohls Vorstoß in den Achtzigern, die Hälfte der "Gastarbeiter" aus dem Land zu werfen, den laschen Reaktionen auf den rechtsextremen Terror nach der Wende und der Umgang mit dem NSU – all das waren, vorsichtig ausgedrückt, fatale Signale, die  das Gerede von Integration ad absurdum führten.

Von diesen Ereignissen zieht sich eine gerade Linie zu Sarrazin, der AfD und schließlich dem aktuellen rechtsextremen Terror. Die Ereignisse der letzten Monate bestätigen jedes von Baha Güngörs Worten. Nur welche Ausmaße all das so kurz nach seinem Tod noch annehmen würde hätte er wohl nicht erwartet.

Gesellschaftliche Annäherung immer von beiden Seiten

"Hüzün" ist ein Buch, das sich genau jenen Themen widmet, die Mehrheiten in Deutschland auch wenige Wochen nach Hanau am allerliebsten wieder ganz schnell verdrängen würden. Es macht deutlich, wie viel Arbeit noch vor uns allen liegt, dass menschliche und gesellschaftliche Annäherung immer von beiden Seiten kommen muss.

Vielleicht lässt sich das an einer vergleichsweise harmlosen Anekdote von Baha Güngör illustrieren: Noch ganz am Anfang seiner journalistischen Laufbahn war es Usus, dass seine Kollegen seine Texte ganz genau unter die Lupe nahmen und jeden Tippfehler rot umkringelten, bei den Kollegen mit "deutschen" Namen taten sie das hingegen nicht. Baha Güngör wendete das Blatt, indem er es ihnen gleichtat – seine Kollegen hatten freilich nicht weniger Tippfehler als er in ihren hastig verfassten Agenturtexten.

"Aus heutiger Sicht gruselt es einen", sagt er über den auch in Teilen der Politik zelebrierten Rassismus der Achtziger Jahre. Und im Jahr 2020 gruselt es einen wieder – bisweilen heftiger als vor vierzig Jahren. Baha Güngör hat uns ein Buch hinterlassen, das nicht zuletzt ein zeithistorisches Dokument von unschätzbarem Wert ist. Und das wird es bleiben, solange Deutschland sich weigert, an sich zu arbeiten.

Gerrit Wustmann

© Qantara.de 2020

Baha Güngör/Lale Akgün: "Hüzün ... das heißt Sehnsucht. Wie wir Deutsche wurden und Türken blieben", Dietz-Verlag 2020, 240 Seiten, ISBN 978-3-8012-0540-9