Toll, wie die saubermachen!

Europas überraschte Reaktionen auf den arabischen Frühling zeigen, wie sehr wir am Bild vom fremden Orient hängen. Wer weiterhin alles Geschehen in der arabischen Welt mit dem Islam oder dem orientalischen Wesen an sich erklären will, wird auch von der nächsten Revolte überrascht. Ein Essay von Karin Gothe

Von Karin Gothe

Ach, hätte man doch gewusst oder geahnt... Die Bestürzung über die Kurzsichtigkeit Europas angesichts des Umbruchs in der arabischen Welt ist groß. Niemand in Europa hatte mit der Vehemenz und dem Ausmaß der Revolten in Tunesien, Ägypten oder Libyen gerechnet. Diplomaten, Politiker und Berater fragen sich seither zerknirscht, ob und wie man die Entwicklung hätte voraussehen können.

Auch das Friedensgutachten, das seit 1987 jährlich von den fünf Instituten für Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik herausgegeben wird, wirft in diesem Jahr in fast schon zerknirschtem Ton die Frage auf, warum "Entwicklungen wie die des Arabischen Aufbruchs so spät wahrgenommen werden".

Dabei liegt eine der Hauptursachen auf der Hand: Es ist unser Bild vom Orient und vom Orientalen: rückständig und veränderungsunwillig, bestenfalls patriarchal und schlimmstenfalls islamistisch. Diese verzerrte Wahrnehmung ist die Ursache für das große Staunen, das die Europäer seit Anfang des Jahres befällt, wenn sie auf Tunis, Kairo, Tripolis – und nun auch auf Damaskus schauen. Sie erklärt, warum der Westen vom arabischen Aufbruch so überrascht wurde und nur mit Verzögerung reagierte.

Man könnte dieses Versäumnis auf die Geheimdienste schieben – hätten sie doch besser hingehört. Man könnte es den europäischen Kulturinstitutionen anlasten – hätten sie doch die Jugend ernster genommen. Man könnte es ebenso den diplomatischen Vertretungen vorwerfen – hätten sie doch weniger mit den Vertretern der etablierten Gesellschaft, den sogenannten Garanten der Stabilität, parliert und sie hofiert.

Man könnte auch die Experten der Think-Tanks, Stiftungen und Zeitungen kritisieren – hätten sie doch etwas weniger auf das geschielt, was die Kollegen schrieben und was die Politiker daheim sagten, als der eigenen Wahrnehmung und den eigenen Recherchen zu vertrauen! Gewiss, viele Experten warnten seit langem vor der explosiven Mischung aus Jugendarbeitslosigkeit und Unterdrückung in den arabischen Staaten. Doch wurden die Forderungen der arabischen Jugend nach Arbeit, Demokratie und Menschenrechten nie wirklich ernst genommen.

Der faule, lüsterne und blutrünstige Orientale

Haben wir Europäer nicht gedacht und erklärt, dass die Orientalen "noch nicht so weit" seien, dass sie – da ihnen das Zeitalter der Aufklärung fehle und ihre Religion ihnen das Denken verbiete - einfach nicht in der Lage seien, Demokratien aufzubauen? Kurz: Haben wir es den Ägyptern, Tunesiern, Libyern und nun auch den Syrern ganz einfach nicht zugetraut, dass sie sich ernsthaft aus ihrer Unmündigkeit befreien wollen?

Orientalistisches Gemälde von Jean-Baptiste Huysmans; Foto: Wikipedia
Lüstern, irrational, rückständig. Das dominante Orientbild passt nicht zum Freiheitsdrang der arabischen Revolutionen: "Die Unterscheidung zwischen einem überlegenen und rationalen Europa und einem rückständigen und exotischen 'Orient', die seit dem 19. Jahrhundert verbreitet wurde, entlarvte Edward Said bereits 1978 als rassistischen 'Orientalismus'. Doch er existiert noch immer", meint Karin Gothe.

​​Der moderne Mensch in der arabischen Welt muss immer erst den Beweis antreten, dass er wirklich modern ist. Jemand bemerkte kürzlich, es sei auffällig, wie häufig in den Berichten über die ägyptische Revolution erwähnt wurde, dass die Straßen Kairos während der Unruhen so sauber geblieben und wie effizient die Organisatoren des Tahrir-Platzes gewesen seien. Hat man so etwas je über den Herbst 1989 in Deutschland gelesen? Haben die Flüchtlinge in der Prager Botschaft eigentlich ihren Müll entsorgt?

Die Unterscheidung zwischen einem überlegenen und rationalen Europa und einem rückständigen und exotischen "Orient", die seit dem 19. Jahrhundert verbreitet wurde, entlarvte Edward Said bereits 1978 als rassistischen "Orientalismus". Doch er existiert noch immer: Der mal faule, mal lüsterne und blutrünstige Orientale, fast ein Archetyp unserer Phantasie, gemalt von Eugène Delacroix oder Jean-Léon Gérôme, geistert auch heute durch unsere Bilderwelt.

Wir entdecken ihn im Urlaub, beim Gang durch die Souks von Aleppo, sehen ihn müßig vorm Café sitzen, mit Backgammonspiel, Teeglas und Wasserpfeife, während die schönen verschleierten Frauen mit wehenden Gewändern in die prächtigen Innenhofgärten enteilen. Wir hören von der Jasmin-Revolution und riechen den Jasmin im tunesischen Dorf Sidi Bou Said, einer Idylle aus weißem Kalkstein vor blauem Mittelmeer, ge- und erfunden von dem französischen Musikwissenschaftler Rodolphe d’Erlanger, gemalt von August Macke und Paul Klee.

Es sind emotionale und konstruierte Bilder und Welten, die sich in unserer Wahrnehmung nur schwer mit der Moderne, dem Internet, Ideen wie Demokratie und Menschenrechten verbinden lassen. Es sind Bilder, die uns seit dem 19. Jahrhundert die Andersartigkeit des orientalischen Wesens suggerieren. Die gerade zu Ende gegangene Ausstellung "Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky" in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung huldigte diesen Bildern ohne Ironie, fast ohne Distanz und ohne Selbstkritik.

Wir lieben diese Bilder – sie entsprechen unserem Bedürfnis nach einer klaren Weltordnung. Warum sollte es den politischen Entscheidungsträgern in Europa anders gehen? Nicht wenige deutsche Diplomaten haben in ihrer Jugend Karl May gelesen und eiferten später Kara Ben Nemsi nach. So mancher Bundestagsabgeordnete tat Fragen zur Afghanistan-Politik ab mit der lächelnden Gegenfrage, wie man sich "bei diesen Stammesgesellschaften da unten" schon auskennen solle. Der libysche Despot Muammar al-Gaddafi bediente die Klischees, wenn er bei internationalen Gipfeln sein Beduinenzelt aufschlug und forderte, dass junge Frauen es bewachen sollten. Man lächelte über seine orientalische Inszenierung, gruselte sich ein wenig vor seinen Waffen, kaufte sein Öl und sprach eher selten über Menschenrechte.

Den Islam nicht ausklammern

Die Angst vor dem dolchbewehrten Muslim ist die andere Seite unserer Faszination für den Orient. Sie ist ein Relikt der europäischen Geschichte, aber sie ist auch konkret: Die Angst vor dem unheimlichen Fremden führt dazu, dass Europa weiter seine Grenzen dicht hält. Die Angst vor dem unheimlichen Fremden, vor einem entfesselten muslimischen Volk, führte zu Pakten mit Militärregenten und Diktatoren.

Nicolas Sarkozy und Muammar al-Gaddafi; Foto: AP
Unheilige Allianzen: "Die Angst vor dem unheimlichen Fremden, vor einem entfesselten muslimischen Volk, führte zu Pakten mit Militärregenten und Diktatoren", resümiert Karin Gothe.

​​Die Angst vor dem Fremden reicht bis zur totalen Ablehnung des Islam, den wir häufig mit Islamismus und Terrorismus gleichsetzen und vor dem wir uns mit Hingabe fürchten. Berichte über Terrorgefahr, Islamismus oder religiöse Intoleranz stoßen hierzulande stets auf größtes Interesse – vor allem wenn sie scheinbar unsere Zivilisation bedrohen. Dabei ist diese auch nur imaginär: Denn so wie wir den Orient romantisieren und dämonisieren, idealisieren wir auch Europa als kulturell homogene Trutzburg "jüdisch-christlicher" Identität und erklären das Erlebnis der Französischen Revolution und der Aufklärung als unverzichtbar für modernes Denken.

Die Dichotomie des Orientalismus, die sich auch in Samuel Huntingtons Idee des "Clash of civilizations" ausdrückt, verzerrt den Blick für die Wirklichkeit. Es sei daran erinnert: Die meisten Opfer islamisch motivierter Gewalt leben nicht in Europa. Die Hauptursache für politische Gewalt in der arabischen Welt ist nicht der Terrorismus, sondern der autoritäre Staat. Das Haupthindernis für die Demokratisierung der arabischen Welt ist nicht die Religion, sondern die Angst der Regierenden vor Machtverlust.

Wenn man die autoritären Systeme der arabischen Welt überwinden will, muss man sich die Gesellschaften genau und vorurteilsfrei anschauen.

Es reicht nicht, aus Angst vor dem Islam ausschließlich auf die bekannten und europäisch gebildeten Mitglieder der wirtschaftlichen, politischen oder intellektuellen Elite zu setzen. Man muss nach weiteren Reformern Ausschau halten, die diese Strukturen verändern wollen. Wenn diese demokratischen Reformer Muslime sind, nun denn, dann muss man sich auch Muslime anhören, auch wenn man ihre religiöse Überzeugung nicht teilt.

Man darf den Islam nicht ausklammern, wenn man die arabischen Gesellschaften begreifen will, man sollte sie auch nicht darauf reduzieren. Die politischen Stiftungen müssen ihr Augenmerk über den Nahost-Konflikt hinaus auf die Gesellschaften im Umbruch richten und den Politikern in Deutschland differenziertere An- und Einsichten liefern.

Die Frage ist nicht, ob der Islam mit der Moderne kompatibel ist oder welche Gefahr Europa durch den Islam droht – das ist altes orientalistisches Denken. Wer weiterhin alles Geschehen in der arabischen Welt mit dem Islam oder dem orientalischen Wesen an sich erklären will, wird auch von der nächsten Revolte überrascht. Im Jemen, Saudi-Arabien, Algerien, Syrien. Es brodelt.

Karin Gothe

© Süddeutsche Zeitung 2011

Karin Gothe ist Publizistin und Islamwissenschaftlerin.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de