Sexualität als Minenfeld

Die Tabuisierung der Sexualität im öffentlichen Diskurs in der arabischen Welt stellt für die Journalistin Shereen El Feki nicht nur ein ideologisches Manko dar, sondern zeitigt aufgrund einer in ihren Augen erschreckend weit verbreiteten Unwissenheit handfeste und oftmals hanebüchene Resultate. Claudia Kramatschek hat ihr Buch gelesen

Von Claudia Kramatschek

Es war ein sicher symbolischer Moment, als Frauen und Männer während des Höhepunktes der arabischen Rebellion Tag und Nacht auf dem Tahrir-Platz in Kairo friedlich neben- und miteinander protestieren konnten. Schon vor dem Sturz Mubaraks schien plötzlich eine neue, da offenere Gesellschaft möglich.

Umso schockierender waren daher die Bilder, als kurze Zeit später junge Männer am Rande des Platzes eine Frau im Hijab attackierten und sie öffentlich entkleideten.

Schlagartig machte diese Episode deutlich, dass der politischen Revolution auch eine gesellschaftliche Revolution folgen müsse, um eine tief greifende Änderung der verkrusteten Verhältnisse zu erwirken, die Männer und Frauen gleichermaßen in ihr Recht setzen würde.

Der doppelte Blick

Graffiti gegen Gewalt gegen Frauen in Kairo: 'Wir werden nicht vergessen!', Foto: Nael Eltoukhy/DW
"Wir werden nicht vergessen!" - Im Dezember 2011 sorgte ein Video im Internetportal YouTube für Empörung, in dem zu sehen ist, wie Soldaten eine verschleierte Frau schlagen, über den Boden schleifen und sie dabei bis auf den BH entblößen.

​​Diese These liegt nun auch dem Band "Sex und die Zitadelle" zugrunde, in dem es – so der Untertitel – um das Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt geht. Geschrieben hat das Buch Shereen El Feki, eine renommierte Immunologin, die zugleich als Journalistin u.a. für Al-Jazeera schreibt und nicht zuletzt als Halbägypterin eine Grenzgängerin der Kulturen darstellt. Sprich: Ihr Blick ist ein doppelter – empathisch und distanziert zugleich. Ihr Tonfall ist einerseits sachlich und ganz auf Zahlen und Fakten angelegt – und doch erfrischend provokant, gerade weil El Feki die Dinge beim Namen nennt:

"Was ist das?" Sechs dunkle Augenpaare starren mich an. Vielmehr nicht mich, sondern einen kurzen lilafarbenen Stab in meiner Hand. "Das ist ein Vibrator", antwortete ich auf Englisch und zermarterte mir das Hirn nach dem richtigen arabischen Wort. … Eine der Frauen, die es sich auf einem Diwan neben mir gemütlich machte, begann ihren Hijab abzustecken, worauf das schwarze Haar wie in einer Kaskade ihren Rücken herabfiel, während sie das Kopftuch sorgfältig zur Seite legte. "Was tut dieses Ding?", fragte sie. "Nun, es vibriert", antwortete ich.

Mit dieser Anekdote wartet Shereen El Feki gleich zu Anfang auf – und entlarvt damit auch etwas über sich selbst. Denn einerseits fördert El Feki – die Tochter eines Ägypters und einer Walisin – für das unkundige und unbedarfte Lesepublikum teils Erstaunliches, teils auch Erheiterndes zutage.

Zugleich zeigt sich auf kuriose Weise schon hier, dass El Feki in manchen Momenten selbst nicht frei ist von jenem westlich kodierten 'orientalistischen' Blick auf die arabische Welt, den sie doch zugleich mit ihrer instruktiven Materialsammlung aufbrechen will.

Fünf Jahre lang bereiste sie arabische Länder und sprach mit Menschen quer durch alle Schichten der Gesellschaft rund um das Thema der Sexualität. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt El Feki nicht. Ihr Buch ist eher angelegt wie ein Album voller Schnappschüsse, dessen Fokus sich aufgrund der eigenen familiären Wurzeln vornehmlich auf Ägypten richtet.

Sexualität fehl am Platz

Dass dort die so genannte arabische Rebellion eines ihrer wichtigsten Zentren fand, ist für die Autorin kein Zufall – sondern zielt vor dem Hintergrund einer überdurchschnittlich jungen und zugleich extrem gemaßregelten Gesellschaft ins Herz ihrer Analyse: "Seit der Erhebung", so El Feki, "ist Kairo zu einer großen Anschlagtafel für Menschenrechte geworden. 'Freiheit', 'Gerechtigkeit' und 'Würde' sind nur einige der Schlagwörter in den Graffiti, die man überall in der Stadt sieht. Aber die Ausweitung dieser Rechte ... auf das Liebesleben aller Bürger ist eine andere Sache."

Buchcover 'Sex und die Zitadelle' im Hanser Verlag
Das neue Buch von Shereen El Feki wagt sich an ein Tabu: Fünf Jahre lang hat Shereen El Feki Frauen und Männer in den arabischen Ländern befragt, was sie über Sex denken und welche Rolle er in ihrem Leben spielt.

​​Für El Feki ist der Umgang mit Sex demnach nicht nur die Linse, durch die sie auf die arabische Welt blickt. Er bildet bei ihr auch den Gradmesser für die generelle Demokratiefähigkeit dieser Region.

El Feki liefert dabei ein zwar kritisches, aber doch überwiegend optimistisch gestimmtes Bild – das sicher auch die hiesige landläufige Vorstellung eines prüden und verklemmten Islams verblüffend unterläuft: "Langweiliger Sex ist regelrecht unislamisch. Eine Vielzahl der überlieferten Aussprüche und Taten des Propheten Mohammed rühmen die Freuden der Sexualität für Ehemänner und -frauen… Tatsächlich spielte der regelmäßige Rat des Propheten zu den praktischen Details des Sexuallebens eine zentrale Rolle in den mittelalterlichen christlichen Angriffen auf den neuen Glauben."

Dass El Feki immer wieder ein einst goldenes, da sexuell aufgeschlossenes Zeitalter des Islams beschwört, mutet gelegentlich notorisch an. Interessant ist dagegen ihre These, dass die arabische Welt ihre eigene Sexualgeschichte im Zuge der Kolonialisierung umgeschrieben, sprich: bereinigt habe.

Überflüssig zu sagen, dass auch das Erstarken der Muslimbrüder dazu beitrug, aus der Sexualität, so El Feki, ein Minenfeld zu machen: Noch immer gilt, so El Feki, die Ehe als einzig akzeptierter Rahmen für Sexualität, alles andere ist haram, also unrein und daher verboten.

Aufklärung, Bildung, wirtschaftlicher Aufschwung

Umso kühner mutet die Offenheit an, mit der sich vor allem El Fekis diverse Gesprächspartner- und -partnerinnen ihr gegenüber äußern: Ob Oral- oder Analverkehr, ob gay, queer oder transgender, ob der Konsum von westlicher Pornographie oder das Gebot der Jungfräulichkeit, ob weibliche Beschneidung, häusliche Gewalt oder die ausbeuterischen Kurzzeit-Ehen saudischer Sommergäste mit jungen Ägypterinnen aus armen Familien – selbst ausgewiesene Tabuthemen kommen zur Sprache.

Die Tabuisierung dieser Themen im öffentlichen Diskurs stellt für El Feki nicht nur ein ideologisches Manko dar, sondern zeitigt aufgrund einer in ihren Augen erschreckend weit verbreiteten Unwissenheit handfeste und oftmals hanebüchene Resultate: Mädchen etwa glauben, schwanger werden zu können, wenn ihre Unterwäsche mit der von Männern zusammen gewaschen wird. Die HIV-Ansteckungsraten beispielsweise steigen – weil sowohl die sexuelle Aufklärung als auch Kondome als westlich und somit haram gelten.

Am dringlichsten – so El Fekis Fazit – wären daher: Aufklärung gepaart mit Bildung gepaart mit wirtschaftlichem Aufschwung. Erst dann würde der Weg frei sein für eine Gesellschaft, in der es um viel mehr geht als um das Recht auf sexuelle Freiheit: das Recht, als Mensch respektiert zu werden.

Zugleich ist es diese so grundlegende Sehnsucht nach der Anerkennung der eigenen Menschlichkeit, die den Orient mit dem Okzident verbindet – das ist vielleicht die so banalste wie wichtigste Erkenntnis, die sie manch westlichen Lesern eröffnen kann.

Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2013

Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt", aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Hanser Verlag Berlin 2013, 414 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de