Eine arabische Charlotte Roche?

Noch nie wurde ein arabisches Buch für so viel Geld an ausländische Verlage verkauft wie dieses: "Honigkuss" von Salwa Al Neimi passt zwar in eine Zeit, in der tatsächliche oder vermeintliche erotische Bekenntnisse aus weiblicher Feder die Bestsellerlisten stürmen, lässt sich jedoch nicht so leicht abtun wie Charlotte Roches "Feuchtgebiete", meint Stefan Weidner.

Salwa Al Neimi; Foto: T. Langro
Eine "sexuelle Intifada"? Arabische Medien haben Salwa Al Neimis als Beginn einer sexuellen Revolution für den arabischen Raum gedeutet.
(Foto: T. Langro)

​​Das Buch der Ende der 1950er Jahre in Damaskus geborenen, seit längerem in Frankreich lebenden syrischen Journalistin und Autorin ist weder autobiographisch, noch pornographisch, es entzieht sich einfacher Festlegungen. Sensationell ist es dennoch.

Eine namenlose Frau erzählt, und diese Namenlosigkeit ist das einzige Zugeständnis, das Salwa Al Neimi an Sitte und Anstand macht, wie sie in der arabischen Welt begriffen werden. Die Erzählerin arbeitet als Bibliothekarin erst in Damaskus, dann in Paris, und liest heimlich die klassischen arabischen Erotika.

Auch wenn diese heute oft vergessen oder auf dem arabischen Buchmarkt nicht greifbar sind, es gibt sie in Hülle und Fülle, und zwar spätestens seit dem neunten Jahrhundert. Die Lust, und nicht zuletzt die weibliche Sexualität, werden im klassischen (anders als im fundamentalistischen) Islam als Gottesgeschenk begriffen, als Vorgeschmack auf die Freuden des Paradieses.

Gelesene und gelebte Erotik

Die Entdeckung dieser Bücher und die Begegnung mit einem Mann, den sie den "Denker" nennt (und der sich später als mehrere entpuppt), setzt einen Prozess der sexuellen Selbstbefreiung in Gang. Nicht nur lebt sie jetzt ihre Sexualität bewusst und ohne falsche Rücksichten aus, sondern sie findet, angeregt durch die Lektüre der klassischen Erotika, auch eine Sprache dafür.

Zum einen werden nun die sexuellen Abenteuer der Erzählerin und ihrer Freundinnen ausgebreitet, zum anderen wird, fast nach Art eines Essays, für die Wiederbelebung oder Wiedergewinnung einer Sprache für die Sexualität plädiert, wie es sie einst in der arabischen Welt gab, aber die in Vergessenheit geraten ist:

"Der Scheich al-Sujuti schrieb im 13. Jahrhundert ein Buch über die Kunst der Liebe eigens für die Frauen. Wenn die Leserinnen es heute läsen, würden sie kein Wort davon verstehen. Ebenso gut könnte man einem Neandertaler ein Informatikbuch in die Hand drücken. […]Wie kann man von sexueller Bildung sprechen, wenn die Menschen nicht einmal die einfachsten Grundlagen der Anatomie kennen?"

Im Grunde ist dieses Buch ein Plädoyer dafür, mit diesem Zustand ein Ende zu machen, um so die Grundlage für eine sexuelle Befreiung des Mannes und der Frau zu schaffen.

Postmodernes Vexierspiel

​​Die Erzählerin erhält nämlich den Auftrag vom Direktor ihrer Bibliothek, auf einer Tagung in Amerika über die alten arabischen Erotikhandbücher zu referieren – also sich zu diesem Thema öffentlich zu äußern.

Aufgrund von Sicherheitsbestimmungen, heißt es am Ende, wird sie an diesem Kongress nicht teilnehmen können, aber das Buch "Honigkuss", das der Leser in der Hand hält, ist gleichsam der Aufsatz, den die Erzählerin hätte schreiben sollen, freilich angereichert um ihre persönliche Erfahrung.

Zugleich ist es eine Wiederbelebung von und ein postmodernes Vexierspiel mit dieser alten erotischen Literatur, wenn etwa die Kapitelüberschriften fast wie Zitate daraus wirken: "Übers Lernen und Lehren", "Über Listen und Finten." Dann aber wird dieses Schema ironisch gebrochen, wenn ein Kapitel "Sex and the Arabic City" heißt.

Botschaft nicht nur für den Orient

Salwa Al Neimis Botschaft ist nicht nur für die arabische Welt aktuell. Würde eine Feministin dieses Plädoyer für die Lust lesen, so sagt die Erzählerin an einer Stelle, würde "sie mich als Sklavin der männlichen Ideologie bezeichnen und mir den Krieg erklären". Aber auch die Anhänger klassischer Familien- und Beziehungskonzepte in der arabischen Welt werden mit Salwa El Neimis Plädoyer für die Promiskuität ihre Schwierigkeiten haben. Ein überraschendes, ein provokantes Buch also, eine intelligente Mischung aus Essay und Erzählung – aber, aufgepasst, kein Roman, wie es der Untertitel verspricht.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2008

Salwa Al Neimi: Honigkuss. Roman. Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2008, 126 S., 14,95 Euro

Qantara.de

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