"Wie fühlen Sie sich bei uns?"

35 neue Bundestagsabgeordnete haben Migrationshintergrund - und sind es oft leid, darüber definiert zu werden. Denn sie sind längst keine Quoten-Migranten mehr. Oder doch? Begegnungen im Regierungsviertel. Von Naomi Conrad

Von Naomi Conrad

Es gibt Journalisten, die Azize Tank zur Verzweiflung treiben. Die Journalisten, die fragen: "Frau Tank, wie fühlen Sie sich bei uns?" - und es gar nicht böse meinen. "Bei uns", als sei die gebürtige Türkin, die seit über vierzig Jahren in Deutschland lebt, nur kurz zu Besuch. Als würde sie bald ihre Koffer packen und zurück in ihr Geburtsland ziehen, das längst zu einem Urlaubsort für sie geworden ist. Als sei sie nicht gerade als Abgeordnete der Links-Partei in den Bundestag gewählt worden.

Tank schüttelt ihre langen weißen Locken und seufzt: Viele Deutsche, "Bio-Deutsche", "biologische Deutsche", so nennt sie ihre Mitbürger ohne Migrationshintergrund, würden Menschen eben gerne in Kisten packen. "Meine ist die Migrations-Kiste." Sie grinst.

Aus der "Migrations-Kiste" in den Bundestag: Azize Tank von der Partei "Die Linke"

In ihr Deutsch mischt sich ihre deutsch-türkische Herkunft, winzige Grammatikfehler und ein Hauch von einem Akzent. "Mein Akzent - das mache ich ganz bewusst. Ich finde das schön." Sie zuckt die Schultern: "Vielleicht kommt irgendwann die Zeit, wo ich nicht mehr gefragt werde: Wo kommst du denn wirklich her?"

"Vorbilder sind wichtig"

Am Fenster des kleinen Cafés im Berliner Regierungsviertel hasten Abgeordnete und Journalisten im Nieselregen vorbei. Der Bundestag, Tanks neuer Arbeitsplatz, ist nur ein paar Schritte entfernt. Tank, die bis zu ihrer Pensionierung 2009 rund 20 Jahre als Integrationsbeauftragte in Berlin gearbeitet hatte, gehörte nie einer Partei an, "sondern nur der Frauenbewegung". Als sie aber von der Linken gefragt wurde, ob sie als Bundestagskandidatin antreten wolle, habe sie schnell zugesagt: Sie wolle sich für Gleichberechtigung von Menschen mit Migrationshintergrund engagieren und gegen Rassimus, "Integrationsthemen", wie sie es nennt, "das sind ja meine Themen."

Und sie ist angetreten, "weil Vorbilder wichtig sind - vor allem für junge Menschen". Im Wahlkampf, erzählt sie, da habe sie zu ein paar Schülerinnen, deren Eltern aus der Türkei oder dem Iran stammten, gesagt: "Heute hängt mein Wahlplakat an den Laternen. In Zukunft muss da eins von euch hängen."

Tank ist eine von 35 Parlamentarierinnen und Parlamentariern mit Migrationshintergrund, die nach Angaben des "Mediendienstes Integration" in den neuen Bundestag ziehen - 2009 waren es nur elf. Die Anzahl der türkischstämmigen Abgeordneten ist von fünf auf elf gestiegen. "Begrüßenswert", findet Filiz Demirel vom "Netzwerk türkischstämmiger Mandatsträger", aber die Zahl sei noch viel zu niedrig. Schließlich liege die Anzahl von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland bei etwa 20 Prozent. Natürlich würden diese sich eben nicht nur für Fragen von Integration, wie die doppelte Staatsbürgerschaft oder das kommunale Wahlrecht für Ausländer, sondern genauso für Steuernerhöhungen oder Griechenland-Rettungspakete interessieren wie alle anderen.

Kann ein "Türke" deutscher Innenpolitiker sein?

"Vielfalt muss repräsentiert werden", meint Filiz Demirel, Landtagsabgeordnete der Grünen in Hamburg.

Eine gewisse Repräsentation im Bundestag sei aber trotzdem wichtig. "Die Vielfalt, die es in Deutschland gibt, kann nur zur Realität werden, wenn man sich auch begegnet - und zwar sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft." Auch würden Menschen mit Migrationshintergrund durch sichtbare politische Vorbilder eher animiert, sich ebenfalls zu engagieren - und auch zu wählen. Das hätten die Parteien durchaus verstanden: "Alle Parteien waren auf Wählerfang bei Menschen mit Migrationshintergrund." So seien für die Bundestagswahl Hunderte Kandidaten mit Migrationshintergrund aufgestellt worden - eine positive Entwicklung.

Auch Özcan Mutlu, der für die Grünen in den neuen Bundestag zieht, war einer dieser Kandidaten mit Migrationshintergrund. Aber im Gegensatz zu Tank stört es ihn, dass er so oft auf seine türkische Herkunft reduziert wird, dass er, der "Parteisoldat", einer der Dienstältesten im Berliner Abgeordnetenhaus, für viele seiner Kollegen noch immer der "türkische Abgeordnete" ist und dass Journalistin ihn nach Integration und Migration fragen, obwohl er bildungspolitischer Sprecher der Grünen ist. Dabei sei der Konkurrenzdruck, zumindest in seiner Partei, für alle Politiker gleich groß, keiner werde bevorteilt - "und das ist auch gut so".

Er kann sich vorstellen, dass es in der neuen Regierung vielleicht einen Minister und ein oder zwei Staatssekretäre mit Migrationshintergrund geben könnte. Mehr nicht. Für mehr sei die Republik noch nicht reif.

Immer wieder wird das Interview unterbrochen: Kollegen klopfen Mutlu auf die Schulter und gratulieren ihm zur Wahl. In den nächsten Tagen steht der Umzug in den Bundestag bevor, wohl gekoppelt mit einem inhaltlichen Wechsel: Er könne sich, sagt Mutlu, gut vorstellen, sich auf die Innenpolitik zu konzentrieren. Schließlich gebe es bei Themen wie Rechtsextremismus oder innere Sicherheit viel zu tun. "Das wäre Neuland: ein Türke als Innenpolitiker", Mutlu lächelt. "Damit müssten sich die Leute erstmal anfreunden."

Naomi Conrad

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Johanna Schmeller/Deutsche Welle