Bilanz einer gescheiterten Strategie

Das Versagen der US-amerikanischen Außenpolitik seit dem 11. September 2001 lässt sich an der Kluft zwischen den hohen Erwartungen des Jahres 2001 und der Realität des Jahres 2007 ermessen. Von Paul Rogers

US-Präsident Bush; Foto: AP
Die gesamte Reaktion auf die Grausamkeiten von New York und Washington war strategisch falsch, so Paul Rogers.

​​Die Welt ist im siebten Kriegsjahr und noch ist kein Ende in Sicht. Vor nicht mehr als sechs Jahren, im Dezember 2001, sah alles noch ganz anders aus. Eine Kampagne unter der Führung der Vereinigten Staaten hatte das Taliban-Regime in Afghanistan besiegt und in Washington wandte man sich bereits der Frage zu, ob nun die Reihe an Saddam Husseins Irak wäre.

Schon bald also nach dem tiefsitzenden Schock der grausamen Anschläge vom 11. September befanden sich die US-Regierung unter Präsident George W. Bush auf einem Höhenflug — tatsächlich ließ schon die ungeheure Dynamik der sich vollziehenden Ereignisse, die bald als "Krieg gegen den Terror" firmieren sollten, viele an ein "neues amerikanisches Jahrhundert" glauben.

Präventivkriege gegen die "Achse des Bösen"

Im Januar 2002 feierte Bush in seiner Rede zur Lage der Nation den Sieg in Afghanistan und weitete den Krieg gegen Al-Qaida zu einem gegen eine "Achse des Bösen" aus drei Schurkenstaaten (Iran, Irak, Nord-Korea) aus. Im Juni 2002 verschärfte er den Ton weiter, indem er (bei einer Rede auf einer Abschlusszeremonie in West Point) das Recht der USA bekräftigte, zukünftigen Bedrohungen mit präventiven Angriffen zu begegnen.

Nach und nach wurde klar, dass das Taliban-Regime nur der erste Schritt war und dass Washington auch in anderen Staaten einen Regimewechsel anstrebte. In den Beziehungen zu anderen Ländern wurde der Satz "Entweder seid Ihr für oder gegen uns" zum Leitmotto — und das umso mehr, als sich die Vorbereitungen für den Krieg gegen den Irak zum Jahreswechsel 2002-2003 intensivierten.

Die Beseitigung von Saddam Hussein und seiner Herrschaft über den Irak in den Monaten März und April 2003 wurde von Bush in einer weiteren medienwirksam inszenierten Rede an Deck des Flugzeugträgers USS Abraham Lincoln verkündet — vor einem riesigen Banner mit der Aufschrift "Mission erfüllt".

Afghanistan und Irak "erledigt"?

Zu diesem Zeitpunkt — möglicherweise der Höhepunkt der US-amerikanischen Hybris — als Afghanistan und Irak bereits als "erledigt" angesehen wurden und bevor der Aufstand im Irak einen kritischen Punkt erreicht hatte — schien der Weg frei zu sein für ein weiteres, kühneres Projekt Washingtons: einer Transformation der politischen Landkarte des Nahen Ostens und der angrenzenden Regionen im großen Stil.

US-Soldat vor brennender Öl-Quelle im Irak; Foto: AP
Die Kriegszüge gegen Afghanistan und den Irak mit Hunderttausenden toten Zivilisten waren nur Futter für die Terroristen, so Rogers.

​​Afghanistan selbst sollte zu einem pro-amerikanischen Staat mit permanenten Militärstützpunkten in Bagram und Kandahar werden; auf diese Weise wären auch neue Öl-Pipelines zum Indischen Ozean leichter erreichbar.

In der Nachbarschaft sollten die bereits errichteten Basen in Usbekistan (und vielleicht noch anderen zentralasiatischen Staaten) sowohl den Einfluss der USA in diesen ölreichen Regionen um das Kaspische Meer erhöhen als auch die heikle geopolitische Aufgabe erfüllen, dem wachsenden Einfluss Russlands und Chinas zu begegnen.

Das Traumprojekt

Schon dies allein war eine außergewöhnliche Vision, doch der Irak war ein noch wesentlich ambitionierteres Projekt. Das Regime Saddam Husseins war nun ersetzt worden durch die Koalitions-Übergangsverwaltung (Coalition Provisional Authority, CPA) unter ihrem Statthalter, Paul Bremer. Die offizielle Geschichtsschreibung der CPA suggeriert, dass ihre Funktion in erster Linie darin bestand, den Irak politisch zu repräsentieren und das ungeplante Chaos im Land zu überwachen. Diese Annahme muss allerdings als falsch bezeichnet werden.

In Wirklichkeit ging es um den sehr präzisen neo-konservativen Plan der Installierung eines abhängigen Regimes, das eine sehr liberale Marktwirtschaft durchsetzen sollte.

Es lag in der Absicht der US-Regierung, eine umfassende Privatisierung aller Staatsgüter durchzuführen (bei der auch israelische Unternehmen zum Zuge kommen sollten), umfangreiche Einbindung ausländischer Firmen in der Ölindustrie, ein Niedrigsteuersystem, und das alles bei fast vollständigem Verzicht auf jedwede finanzielle Regulierungsmechanismen.

Phantasie-Wirtschaft

Das beabsichtigte Ziel war das einer Art "Traumökonomie", ein Wirtschaftssystem also, dass in den Vereinigten Staaten selbst nie hätte installiert werden können, da es dort störende Gewerkschaften gab, Bürgerrechtsbewegungen, Wirtschaftsregulierungen und andere Hindernisse.

Die USA unterstützten diese Phantasie-Wirtschaft durch die Schaffung eines abhängigen irakischen Staats, der geschützt (und überwacht) wird durch ein Netz von Militärbasen, das über das ganze Land verteilt ist. Die Tatsache, dass ein Zehntel der globalen Ölreserven unter irakischem Boden und Gewässern liegen (viermal mehr als in den gesamten Vereinten Staaten einschließlich Alaska) bedeutete, dass ein durch die USA kontrollierter Irak die Sicherheit der eigenen Energiereserven beträchtlich verbessern würde.

Nicht zuletzt würde ein Erfolg dieser Strategie zugleich den ärgsten Feind der USA, nämlich den Iran, wirksam eindämmen; möglicherweise sogar in einem Maße, das eine aktive Beseitigung des Teheraner Regimes überflüssig machen würde.

Schließlich würde die herrschende Elite in Teheran — egal welcher politischen Couleur — es sich zweimal überlegen, die nationale Sicherheit zu riskieren, wenn schon zwei Nachbarländer (Afghanistan im Osten und der Irak im Westen) unter amerikanischer Kontrolle sind und die US-Navy den Persischen Golf und das Arabische Meer beherrscht.

Die große Kluft

Dies waren die Erwartungen und die Planungen im Mai 2003. Wie verhalten sie sich nun zur Realität von heute?

In Afghanistan erlebten die Taliban und andere Milizen ein bemerkenswertes Comeback und binden zurzeit rund 50000 ausländische Soldaten. Auf der anderen Seite der Grenze, im westlichen Pakistan, sind große Gebiete außerhalb der staatlichen Kontrolle und können so von der Al-Qaida , den Taliban und anderen Verbündeten als Rückzugsgebiet genutzt werden, in dem auch Anschläge vorbereitet und initiiert werden.

Im Irak sind mehr als 100000 Zivilisten durch direkte Gewalt getötet worden. Mehr als 4 Millionen Iraker haben ihr Heim verloren (fast die Hälfte von ihnen waren zur Flucht ins Ausland gezwungen). Zehntausende sind Unterernährung und Krankheiten zum Opfer gefallen, darunter Armutsseuchen wie Cholera.

Mehr als 100000 Iraker wurden ohne Anklage eingesperrt. Schließlich umfassen die menschlichen Opfer auch die Leben von 3895 amerikanischen Soldaten (Stand vom 19. Dezember 2007) sowie zehntausender Verletzte.

Die "Marke" Al-Qaida

Eine entschlossene Aufstockung der Zahl der amerikanischen Soldaten führte 2007 zu einer gewissen Eindämmung der Gewalt. Dennoch lässt sich die bisherige Strategie nicht durchhalten und wird einzig durch Kurzzeit-Taktiken zusammengehalten, die inhärente Schwächen permanent verdecken, so dass diese später zum Vorschein kommen werden.

Allen Beteuerungen der Bush-Regierung über einen möglichen Truppenabzug zum Trotz ist das fortgesetzte Engagement im Irak allzu offensichtlich; nicht nur die Aushandlung langfristiger Abkommen mit der Regierung Al-Maliki, sondern auch der Bau des weltgrößten Botschaftsgebäudes in Bagdad spricht hierfür.

Gleichzeitig sorgt der immer größere Druck auf die US-Truppen in Afghanistan (und auf die anderer NATO-Kontingente) dafür, dass über eine Verlegung von Truppen dorthin nachgedacht wird. Die meisten NATO-Staaten aber sind entschlossen, ihr Engagement dort nicht zu verstärken. Im Gegenteil: Es ist nicht einmal sicher, ob die nicht unerheblichen Kontingente Kanadas und der Niederlande auf dem jetzigen Stand gehalten werden.

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich Al-Qaida. Sein "Markenwert" ist attraktiv genug, um immer neue Freiwillige anzuziehen, bestehende Netzwerke zu unterhalten, sich in lokale Konflikte einzuschalten und (wie zuletzt am 11. Dezember in Algerien) tödliche Anschläge durchzuführen. Die Anwendung von Repressionen ("hard power") durch die USA hat sich als Geschenk für ihre Feinde erwiesen.

Die falsche Antwort

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Entscheidungen, ja, das ganze Denken der Zeit unmittelbar nach dem 11. September in einem ganz anderen Licht. Ernüchterung ist das Ergebnis.

Es hat sich erwiesen, dass die gesamte Reaktion auf die Grausamkeiten von New York und Washington falsch war.

Man sah Al-Qaida als fast-satanische Bande von Extremisten, die es einzig auf Tod und Zerstörung angelegt haben; nicht aber sah man in ihnen eine international operierende, revolutionäre Bewegung, deren perverse Ideologie sich auf religiöse Fundamente beruft. Ihre Führer und Vordenker erwarten — und das unterscheidet sie von den meisten anderen revolutionären Bewegungen — zu ihren Lebzeiten keinen Erfolg.

Selbst solch kurzfristigen Ziele wie die Vertreibung von "Kreuzzüglern" aus den islamisch geprägten Ländern und die Zerstörung der Eliten von "nahen Feinden" im Nahen Osten können Jahrzehnte in Anspruch nehmen; langfristige Ziele dagegen, wie die Errichtung eines islamischen Kalifats, können durchaus auch ein Jahrhundert dauern.

Futter für die Terroristen

Für diese Organisation war die Antwort, die ihnen George W. Bush gab — also die, die vor allem auf Gewalt vertraute — genau die, die sie sich erhofft hatten.

Die aufeinanderfolgenden Kriegszüge gegen Afghanistan und den Irak konnten geschickt (und zwar unter Verwendung modernster Technik und indem an bereits lange bestehende Vorurteile appelliert wurde) als Angriffe von Kräften von "Kreuzzüglern" (und "Zionisten") auf das Herzland des Islam präsentiert. Zudem boten beide Kampfgebiete hervorragende Trainingszonen für angehende Paramilitärs von Al-Qaida und seinen Verbündeten.

Die Reaktion auf den 11. September hätte, um gerechtere und humanere Ergebnisse zu erzielen, eine andere sein müssen: basierend auf einer logischen Durchdringung der Angriffe und vorausschauender in Bezug auf die zu erwartenden Folgen des eigenen Handelns.

Auf diese Art wären die Gewalttaten als schreckliche Beispiele transnationaler Kriminalität behandelt worden; die Vereinigten Staaten hätten so eine Vielzahl williger Partner gewonnen, mit denen sie eine eindrucksvolle Koalition hätten bilden können, um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Es hätte vielleicht lange gedauert und wäre ein komplexer und schwieriger Prozess geworden, doch liegen die Vorteile auf der Hand: man hätte Al-Qaida selbst die minimale Unterstützung entzogen, die sie 2001 genoss und hätte die Desaster in Afghanistan und dem Irak vermieden mit all ihren gewaltigen Verlusten an menschlichem Leben.

Statt dessen aber fiel die Bush-Regierung in genau jene Falle. Zehntausende unschuldiger Menschen wurden seitdem getötet (in Afghanistan, im Irak und an anderen Schauplätzen des "Krieges gegen den Terror). Eine noch höhere Zahl von Menschen wurde inhaftiert, viele von ihnen misshandelt und gefoltert. Die Antwort Washingtons auf den 11. September legte die Basis für einen jahrzehntelangen Konflikt.

Das nächste Paradigma

Das tief verankerte "Kontroll-Paradigma" in der amerikanischen Militärideologie macht es schwer sich vorzustellen, dass in absehbarer Zeit ein durchgreifender Politikwechsel stattfinden könnte, selbst wenn es den Demokraten gelänge, im November 2008 an die Regierung zu kommen.

An einem bestimmten Punkt aber muss und wird die Realität sich Geltung verschaffen: dann wird man erkennen, wie zutiefst kontraproduktiv der Krieg gegen den Terror geführt wird und der Weg für eine klügere Politik wird freigemacht.

Vielleicht bietet sogar gerade dieser kontraproduktive Charakter der Politik der letzten sechs Jahre Anlass zur Hoffnung. Denn das Scheitern dieser Politik öffnet den Raum für ein Umdenken in der westlichen Sicherheitspolitik, hin zu einer umfassenderen Vision globaler Sicherheit.

Was die globalen Konflikte in den Jahren bis 2030 tatsächlich antreiben wird?

Zunächst die Frage der tiefgreifenden Verteilungsungerechtigkeit in der Welt, Armut, Migrationsströme und die Grenzen der Nutzbarmachung der natürlichen Ressourcen — alles verschärft durch den anhaltenden Klimawandel.

Vor diesem Hintergrund wäre es viel zu oberflächlich, die Aufgabe der westlichen Sicherheitspolitik darin zu sehen, die Kontrolle in einer immer weiter auseinanderfallenden Welt zu behalten. Im siebten Jahr eines Krieges, dessen Ende noch lange nicht in Sicht ist, könnten die Fehler der Geheimdienste, die an seinem Beginn standen, der Schlüssel zu einem neuen Ansatz in der Konzeption menschlicher globaler Sicherheit für die kommenden Jahrzehnte sein.

Paul Rogers

© openDemocracy / Paul Rogers / Qantara.de 2007

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Paul Rogers ist Professor Friedenstudien an der Bradford University in Nordengland. Seit dem 26. September 2001 schreibt er für das Online-Magazin openDemocracy wöchentliche Kolumne zum Thema "Globale Sicherheit".

Dieser Artikel wurde ursprünglich mit einer Creative Commons Licence auf openDemocracy veröffentlicht.

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