Der Drahtseilakt der Drusen 

Im syrischen Gouvernement Suweida ringen viele Gruppierungen um Einfluss – vor allem aus dem Ausland. Dennoch bleibt das Regime in Damaskus ein wichtiger Akteur – möglicherweise der wichtigste, schreibt Armenak Tokmajyan.

Von Armenak Tokmajyan

Der mehrheitlich von Drusen bewohnte Distrikt Suweida im Süden Syriens war im letzten Monat Schauplatz wichtiger neuer Entwicklungen. Bewaffnete Einheiten aus der Region konnten die Miliz Quwwat al-Fajr ("Kräfte der Morgenröte") ausschalten. Diese ursprünglich vom Regime in Damaskus unterstützte Gruppe war Berichten zufolge in Entführungen und sonstige kriminelle Machenschaften verwickelt, beispielsweise in den Drogenhandel. Die Zerschlagung der Miliz geschah während einer Situation der Instabilität, Unsicherheit und der Verbreitung bewaffneter Milizen inmitten des Zusammenbruchs staatlicher Autorität in Suweida. 

Für die Menschen vor Ort war der Schlag gegen Quwwat al-Fajr sicher eine wichtige Veränderung. Im größeren Kontext muss er jedoch als Teil eines Prozesses gesehen werden, bei dem konkurrierende syrische und ausländische Mächte versuchen, die Lage nicht nur in Suweida, sondern in ganz Südsyrien neu zu ordnen.  

Ab 23. Juli wurde die Straße zwischen Damaskus und Suweida in den Dörfern Atil und Schahba für einige Tage gesperrt. Der Anführer der Miliz Quwwat al-Fajr, Raji Falhout, hatte Mitglieder der Familie Tawil aus dem benachbarten Schahba entführt und in seinem Hauptquartier in Atil festgehalten. Gleichzeitig ließ er die Straße nach Damaskus sperren, um nach weiteren Mitgliedern der Familie und anderen Dorfbewohnern aus Schahba zu suchen. Daraufhin sperrte die Familie Tawil ihrerseits die Straße nach Damaskus, die durch ihr Dorf führte, und nahm selbst vier Geiseln als Pfand für einen Austausch mit der Miliz Quwwat al-Fajr. Dieser Vorgang war durchaus nicht ungewöhnlich, denn Entführungen zur Erpressung von Lösegeld und darauf folgende Gegen-Entführungen sind in der Region seit geraumer Zeit üblich. Ungewöhnlich ist das Ende dieser Geschichte. 

Nachdem Bemühungen um eine friedliche Vermittlung gescheitert waren, gingen die Einwohner mehrerer Dörfer zusammen mit den Bewohnern von Schahba gewaltsam gegen die bewaffnete Miliz von Raji Falhout vor. Die Miliz Rijal al-Karameh ("Männer der Würde") – Berichten zufolge die größte, am besten bewaffnete und am besten organisierte lokale Miliz in Suweida – übernahm mit dem Einverständnis der religiösen Oberhäupter der Drusen die Führung bei dieser Attacke.

Bewaffnete junge Drusen patrouillieren in der Gegend rund um das Dorf Rami in der südlichen Provinz Suweida, Syrien 2018 (Foto: AP Photo/Hassan Ammar)
Umkämpfte Region: Bewaffnete Einheiten aus der Region Suwaida konnten die Miliz Quwwat al-Fajr ("Kräfte der Morgenröte“) ausschalten. Diese ursprünglich vom Regime in Damaskus unterstützte Einheit war Berichten zufolge in Entführungen und sonstige kriminelle Machenschaften verwickelt, beispielsweise auch in Drogenhandel. Die Zerschlagung der Miliz geschah während einer Situation der Instabilität, Unsicherheit und der Verbreitung bewaffneter Gruppen inmitten des Zusammenbruchs staatlicher Autorität in Suweida. Im größeren Kontext muss die Ausschaltung der Miliz jedoch als Teil eines Prozesses gesehen werden, bei dem konkurrierende syrische und ausländische Mächte versuchen, die Lage nicht nur in Suweida, sondern in ganz Südsyrien zu ihren Gunsten neu zu ordnen.  



Am 26. und 27. Juli wurden die Stützpunkte von Milizenführer Falhout in den Dörfern Slim und Atil eingenommen, Falhout selbst floh. Mehrere seiner Gefolgsleute wurden gefangen genommen, einige wurden später hingerichtet. Ihre Leichen wurden im Zentrum von Suweida deponiert. Nach dieser Auseinandersetzung setzten die religiösen Führer der Drusen die Auflösung mehrerer anderer bewaffneter Gruppen durch, die mutmaßlich mit dem militärischen Geheimdienst des Regimes verbunden waren. 

Kalkül des Regimes 

Das Regime in Damaskus vermied jegliche Eskalation. Es stellte sich in diesem Konflikt nicht hinter die Miliz von Falhout. Im Gegenteil: Einige regimenahe Medien bezeichneten den Milizenführer als Geächteten, der wegen seiner Verwicklungen in den Drogenhandel und der Entführung von Zivilisten und Militärs die Unterstützung des Regimes verloren hätte. Bezeichnend ist, dass Damaskus den Brigadegeneral Ayman Mohammed als Chef des lokalen Militärgeheimdienstes absetzte. Dieser war zuvor beschuldigt worden, lokale bewaffnete Gruppen zu unterstützen, u. a. die von Falhout. Vermutlich wollte man mit dieser Maßnahme den Zorn der Bevölkerung beschwichtigen. Viel ändern wird sich dadurch vermutlich aber nicht. 

Die Absetzung von Brigadegeneral Ayman Mohammed folgt einer alten Regime-Strategie. Beschwichtigung und das Eingestehen einer gewissen Mitverantwortung, indem man die Verantwortlichen ihrer Posten enthebt, sind klassische Schachzüge aus dem taktischen Repertoire des Regimes. Damaskus hat zudem die Belange der drusischen Gemeinschaft stets in besonderer Weise berücksichtigt. Ihre Gemeinschaft ist durch starke regionale Verflechtungen und einen engen Zusammenhalt gegen Bedrohungen von außen geprägt. 

Letztes Jahr beispielsweise hat Scheich Hikmat al-Hajari als hochrangige religiöse Autorität der Drusen den Chef des militärischen Geheimdienstes in Südsyrien, Loay al-Ali, angerufen und ihn gebeten, einen siebzehnjährigen Jungen aus Suweida freizulassen. Als der Geheimdienstchef daraufhin den Scheich beleidigte, löste das Proteste in der Stadt aus. Das Regime reagierte prompt, indem es eine hochrangige Delegation zu Scheich Al-Hajari schickte und den inhaftierten Jungen freiließ. Nach Angaben regimetreuer Quellen rief Präsident Baschar al-Assad den Scheich sogar persönlich an und versicherte ihm, die Ansichten des Geheimdienstchefs seien nicht diejenigen seiner Regierung. Die Lage beruhigte sich wieder, als religiöse Führer der Drusen zur Besonnenheit aufriefen

Doch das Regime hat auch eine andere Seite. Bei Bedarf zeigt es die Zähne: Am 9. Juni, kurz vor der Vertreibung von Falhout, belagerten Kräfte des Regimes zusammen mit regimetreuen Milizen das Hauptquartier einer lokalen Miliz mit dem Namen Anti-Terror Force und töteten deren Anführer. Ein denkbarer Grund für dieses Vorgehen ist die vorausgehende Erklärung der Anti-Terror Force, mit der Miliz Maghawir al-Thawra ("Revolutionäres Kommando") zusammenarbeiten zu wollen, einer von den USA unterstützten lokalen Gruppierung in al-Tanf, wo amerikanische Streitkräfte stationiert sind. Daran wird deutlich, dass das Regime zwar nicht in der Lage ist, seine Herrschaft über das gesamte Gouvernement Suweida durchzusetzen, aber nötigenfalls immer noch lokale Milizen für seine Zwecke mobilisieren oder bekämpfen kann.

Drusenführer Scheich Hikmat al-Hajari (Foto: Anwar Amro/AFP)
Drusenführer Scheich Hikmat al-Hajari und der syriasche Präsident: An Baschar al-Assad kommen die Drusen beim Kampf um die Vormacht in Suweida nicht vorbei: Scheich Hajari steht eher dem Regime nahe, während zwei andere maßgebliche religiöse Führer, nämlich Yusuf Jarboua und Hammoud al-Hannawi, sich neutraler verhalten. Auch wenn sich die drei führenden Köpfe keineswegs einig sind, das Regime stellten sie bislang nie grundsätzlich in Frage. Ganz im Gegenteil: Sie erkennen die Autorität des Regimes an und beschwören bisweilen sogar die Rückkehr der staatlichen Ordnung. 

Iran, Russland und die USA wetteifern um Einfluss 

Obwohl in Suweida das Ausmaß und die Anzahl der Intervention aus dem Ausland beispiellos sind, bleibt Damaskus ein wichtiger Akteur – möglicherweise der wichtigste. Wie stark der Einfluss Irans in der Region ist, lässt sich schwer beurteilen. Sicher ist, dass er zugenommen hat, insbesondere über die mit ihm verbündete Hisbollah. Laut Medienberichten dringt die Hisbollah in den Süden Syriens und damit auch nach Suweida vor und ist dort im Drogenhandel aktiv, der über Jordanien bis an den Golf reicht. Die jordanischen Behörden bemühen sich seit zwei Jahren, die Grenze zu Syrien gegen diesen Drogenhandel abzusichern, der insbesondere über die Wüstengebiete südlich von Suweida verläuft. 

Russland versucht als Vermittler Einfluss zu nehmen, indem es Delegationen schickt, bislang allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Auch die in al-Tanf stationierten US-Streitkräfte, die über die lokale Miliz Maghawir al-Thawra agieren, haben begonnen, sich mit den lokalen drusischen Kräften abzustimmen. Zudem versuchen Israel und der Libanon über ihre eigenen drusischen Gemeinschaften an Einfluss zu gewinnen. Diese Kräfte und ihre lokalen Verbündeten konkurrieren oft mit dem syrischen Regime, ohne es bislang aber vertreiben zu können. Suweida ist nach wie vor in das politische System des Regimes eingebunden und wird stark von den Entscheidungen in Damaskus beeinflusst. 

Ein Beleg dafür sind die Beziehungen des Regimes zu den religiösen Führern der Drusen, darunter auch zu Scheich Hikmat al-Hajari. Hajari steht eher dem Regime nahe, während zwei andere maßgebliche religiöse Führer, Yusuf Jarboua und Hammoud al-Hannawi, sich eher neutral verhalten. Auch wenn sich die drei führenden Drusen keineswegs einig sind, stellten sie doch das Regime bislang nicht grundsätzlich in Frage. Ganz im Gegenteil: Sie erkennen die Autorität des Regimes an und beschwören bisweilen sogar die Rückkehr der staatlichen Ordnung. Zudem sehen sie im Regime immer noch einen entscheidenden und vielleicht den wichtigsten Akteur im Ringen um ihre Macht in Suweida. Ein gutes Beispiel für diese Haltung ist der Fall des Drusenführers Scheich Abu Fahad Wahid al-Balou, den Gründer der Bewegung Rijal al-Karameh.

Ein Obst- und Gemüseladen in Damaskus (Foto: Getty Images)
Einkommensquellen für die Drusen von Suweida: Seit einigen Jahren profitiert die lokale Wirtschaft von Überweisungen aus dem Ausland, von ausländischer Unterstützung für bewaffnete Milizen und einem von Damaskus unabhängigen System der humanitären Hilfe. Zudem lebt immer noch eine relativ große drusische Community in Damaskus. Der Großmarkt in der Hauptstadt bleibt ein wichtiges Drehkreuz für die landwirtschaftlichen Produkte aus Suweida. Außerdem beschäftigt der syrische Staat nach wie vor Menschen aus Suwaida im öffentlichen Dienst – ihre Einkommen bilden einen wichtigen Teil der lokalen Wirtschaft. In der Schattenwirtschaft jedoch sind viele lokale Gruppen eng mit den regionalen Netzwerken für den Drogen- und Waffenhandel verbunden. Das verschafft der Bevölkerung von Suweida lukrative Einkünfte.



Scheich Balous gründete Rijal al-Karameh im Jahr 2014. Er verband damit seine religiöse und weltliche Autorität zu einer Zeit, als im Syrienkonflikt die Schwäche der traditionellen Führer in den meisten Teilen Syriens deutlich wurde. Die drei anderen religiösen Führer der Drusen erkannten darin eine Bedrohung ihrer Vormachtstellung in der drusischen Gesellschaft. Nachdem sich Scheich Balous im Jahr 2015 gegen das Regime wandte, verurteilten die drei anderen Drusenführer dessen Vorstoß in seltener Einmütigkeit.



Einige Beobachter vertreten die Auffassung, sie hätten dem Regime damit den Weg zur Ermordung von Balous im September 2015 freigemacht. Nach der Beseitigung von Balous näherten sich seine Anhänger den anderen religiösen Führern wieder an und rückten von ihrer regimefeindlichen Haltung ab. Damaskus unterstützt nach wie vor die religiösen Führer der Drusen, deren Position derzeit gesichert scheint. 

Die lokale Wirtschaft profitiert

Auch in einem größeren Kontext bleibt Suweida mit Damaskus verbunden. Seit einigen Jahren profitiert die lokale Wirtschaft von Überweisungen aus dem Ausland, ausländischer Unterstützung für bewaffnete Milizen und einem von Damaskus unabhängigen System der humanitären Hilfe. Zudem lebt immer noch eine relativ große drusische Community in Damaskus. Der Großmarkt in der Hauptstadt bleibt ein wichtiges Drehkreuz für die landwirtschaftlichen Produkte aus Suweida. Außerdem beschäftigt der syrische Staat nach wie vor Menschen aus Suwaida im öffentlichen Dienst – Ihre Einkommen bilden einen wichtigen Teil der lokalen Wirtschaft. Auch die Anerkennung von Schul- und Hochschulabschlüssen ist weiterhin in der Hand des Staates. In der Schattenwirtschaft jedoch sind viele lokale Gruppen eng mit den regionalen Netzwerken für den Drogen- und Waffenhandel verbunden. Das verschafft der Bevölkerung von Suweida lukrative Einkünfte. 

Suweida steht unter wachsendem Einfluss externer Akteure. Die Fähigkeit des Regimes, wirtschaftliche und  politische Rahmenbedingungen zu schaffen und für Sicherheit, Beschäftigung und Schutz gegen Bedrohungen von außen zu sorgen, nimmt spürbar ab. Unterschätzen darf man das Regime aber nicht. Suweida liegt weiterhin im politischen Einflussbereich von Damaskus. Doch aufgrund der Schwäche des Regimes werden Suweida und generell der Süden Syriens bis auf weiteres von illegalen Aktivitäten, Instabilität und den Auseinandersetzungen konkurrierender ausländischer Mächte geprägt sein. 

Armenak Tokmajyan 

© Carnegie Middle East Center 2022 

Armenak Tokmajyan ist El-Erian-Stipendiat am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center in Beirut. Schwerpunkte seiner Forschung sind Landesgrenzen und Konflikte, syrische Flüchtlinge und die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in Syrien. 

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers