Kunst und Kultur Türkeistämmiger in Deutschland

Sein Rap erzählt die Geschichte der Migration seiner Familie: der Sänger Eko Fresh bei einem Auftritt; Foto: Marc Oliver John/Imago images
Sein Rap erzählt die Geschichte der Migration seiner Familie: der Sänger Eko Fresh bei einem Auftritt; Foto: Marc Oliver John/Imago images

Seit dem Anwerbeabkommen von 1961 ist Deutschland zur zweiten Heimat vieler türkeistämmiger Menschen geworden. Heute sind sie nicht nur ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Sie prägen und gestalten auch in großem Maße die deutsche Kulturszene. Von Ceyda Nurtsch

Von Ceyda Nurtsch

Nur kurze Zeit nachdem die Bundesrepublik am 30. Oktober 1961 das sogenannte Anwerbeabkommen mit der Türkei abgeschlossen hatte, kamen die ersten Gruppen türkeistämmiger Menschen nach Deutschland. Während die deutsche Wirtschaft kräftig wuchs, benötigten Unternehmen dringend ausländische Arbeitskräfte. Bis zum Anwerbestopp 1973 folgten 800.000 Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten diesem Ruf. Die fortan "Gastarbeiter“ genannten Menschen kamen, um in Bergwerken und Fabriken zu arbeiten. Doch die Gäste blieben: Mit den Jahren wurde Deutschland für sie zur Heimat. Sie holten ihre Familien nach und bauten sich ein Leben in der Fremde auf. Gleichzeitig verarbeiteten viele von ihnen ihre Erfahrungen künstlerisch.

Neue Heimat: Deutschland

Mit Liedern, Bildern, Büchern und Filmen schlugen sie eine Brücke zur alten Heimat und setzten sich mit ihrem neuen Zuhause auseinander. So entstanden Lieder auf Türkisch über das Leben im "gurbet“, in der Fremde, über Heimweh und Sehnsucht. Unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit entstand eine parallele Musikszene. Erst Ende der 1970er Jahre wendeten sich Musiker wie Ozan Ata Canani in seinem Lied "Deutsche Freunde" auch auf Deutsch an die Mehrheitsgesellschaft.



Eine zweite Welle von Einwandern kam in den 1980er Jahren als politisch Verfolgte und Intellektuelle nach Deutschland, die angesichts des Militärputschs von 1980 ins Exil fliehen mussten, wie der Liedermacher Cem Karaca. "Komm Türke, trink deutsches Bier, dann bist du auch willkommen hier“, kommentierte er in seiner sarkastischen Ballade "Willkommen" die Integrationsdebatte. In den 1990er Jahren, mit den rassistischen Anschlägen von Mölln und Solingen, meldeten sich die Söhne der Einwanderinnen und Einwanderer zu Wort. Die Hip-Hop Gruppe Cartel traf mit ihrem Song "Cartel" einen Nerv bei Jugendlichen und machte türkischsprachigen Rap auch in der Türkei populär.

Der Autor Feridun Zaimoglu (Foto: picture-alliance/dpa/Erwin Elsner)
Author Feridun Zaimoğlu came to Germany with his parents in 1965 under the terms of the Labour Recruitment Agreement. He became the mouthpiece for a whole generation of German-Turkish city kids

"Migrantenliteratur“ tritt aus dem Schatten

Auch die sogenannte "Migrantenliteratur“ wurde bis in die 1980er Jahre kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Autoren wie Yüksel Pazarkaya und Aras Ören verstanden sich als Vermittler zwischen den Kulturen und setzten sich mit Sprachlosigkeit, Identität und Fremde auseinander. Auch die Probleme in der sich nur zögerlich öffnenden deutschen Gesellschaft thematisierten sie. Im Juli 1973 titelte das Magazin Der Spiegel noch: "Die Türken kommen, rette sich wer kann“.



Erst in den 1990er Jahren trat die "Migrantenliteratur“ aus ihrem Schattendasein und wurde von der deutschen Öffentlichkeit unter dem Etikett "Gastarbeiterliteratur“ breiter wahrgenommen. Autorinnen und Autoren wie Emine Sevgi Özdamar, Renan Demirkan und Doğan Akhanlı hielten teils an ihrer Herkunftssprache fest, teils schrieben sie auf Deutsch und verhandelten in ihren Werken die Dialektik von Heimat und Fremde. Mit seinem Buch "Kanak Sprak" wurde der Hamburger Schriftsteller Feridun Zaimoğlu 1995 zum Sprachrohr einer ganzen Generation deutsch-türkischer Großstadt-Jugendlicher. Seitdem schreiben Autoren der zweiten und dritten Generation, wie etwa Fatma Aydemir, auf Deutsch über das Leben zwischen zwei Identitäten, Diskriminierungserfahrung und Rassismus. Mit ihren vielfältigen interkulturellen Schreibweisen prägen sie in entscheidendem Maß die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.

Die Autorin und Journalistin Fatma Aydemir; Foto: (detail) ©feski wikipedia/CC BY-SA 4.0
Fatma Aydemir gehört zu den Autoren der zweiten und dritten Generation. Sie schreiben auf Deutsch über ihr Leben mit zwei Identitäten, über Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus. Mit ihren vielfältigen interkulturellen Schreibweisen prägen sie in entscheidendem Maß die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.

Mit Fatih Akın nach Cannes

Auch die Schauspiel- und Filmlandschaft hat sich unter dem Einfluss türkeistämmiger Schauspielerinnen und Filmemacher stark verändert. Während der Film "40 qm Deutschland" von Tevfik Başer aus dem Jahr 1986 als Ausgangspunkt des deutsch-türkischen Kinos gilt, ist der Hamburger Regisseur und Golden-Globe-Preisträger Fatih Akın eine auch international anerkannte Größe. Ab den 2000er Jahren entstanden mit Serien und Filmen wie "Türkisch für Anfänger" und "Almanya" oder "Willkommen in Deutschland" eine Reihe von Culture-Clash Komödien, in denen türkeistämmige Filmemacher der dritten Generation die Themen Identität, Integration und Heimat auf leichte, humorvolle Art verhandeln. Die Berliner Theater Ballhaus Naunynstrasse und Gorki wiederum verfolgen mit ihrem postmigrantischen Ansatz das Ziel, die Gesellschaft in ihrer Diversität widerzuspiegeln.

Die Autorin, Menschenrechtsaktivistin und ehemalige politische Gefangene Asli Erdogan (Foto (detail): © Carole Parodi, Wikipedia / CC BY-SA 4.0)
Exil in Deutschland: Die Autorin, Menschenrechtsaktivistin und ehemalige politische Gefangene Asli Erdogran kam 2017 nach Deutschland nachdem Organisationen wie der Börsenverein der Deutschen Buchhandels sich für ihre Freilassung stark gemacht hatten.

Zwischen Self-Empowerment und Würdigung

Zuletzt kamen in einer weiteren Einwanderungswelle nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 neben Akademikerinnen und Journalisten auch viele Künstler und Schriftstellerinnen wie Aslı Erdoğan und Barbaros Şansal nach Deutschland. Auch sie verarbeiten ihre Erfahrungen im Exil literarisch. Heute, rund 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen, sind die über drei Millionen Türkischstämmigen ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft: Deutschland versteht sich mittlerweile als Einwanderungsland; Migration, Integration und gesellschaftliche Vielfalt, Diskriminierung und struktureller Rassismus sind häufig diskutierte Themen.

Doch noch immer sind die Lebensgeschichten der ersten Generation wenig beachtet. Sänger wie Eko Fresh, der über die Migrationsgeschichte seiner Familie und das Zusammenleben in Deutschland rappt, ebenso wie Musik-Kompilationen wie "Songs of Gastarbeiter" wirken dem entgegen. Gleichzeitig zeigt der Erfolg der Sängerin Zeynep Avcı beim TV-Format "The Voice of Germany“: Türkische Popmusik ist im Mainstream angekommen. Sie ist genauso wie die Literatur und die Filme Türkischstämmiger ein unverzichtbarer Teil der deutschen Kulturlandschaft.

Ceyda Nurtsch

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