Auf der Suche nach Heimat 

In seinem Romandebüt "Flügel in der Ferne“ lässt der preisgekrönte französische Autor Jadd Hilal vier Frauen aus vier Generationen von ihrem ruhelosen Leben zwischen palästinensischer Heimat und Exil erzählen. Von Volker Kaminski  

Von Volker Kaminski

Jadd Hilal liebt den lakonisch unterkühlten Erzählton. Naima, die älteste der Frauen, und später die Großmutter der Familie, leitet die Beschreibung ihrer ersten Flucht mit trockenen Worten ein: "Ein Dienstagabend, neun Uhr. Der Alarm ging los.“ Ihr Mann ist Busfahrer und bringt seine junge Frau und andere Flüchtende nach tagelanger Irrfahrt von Palästina nach Beirut. Wir schreiben das Jahr 1947, es markiert den Beginn jahrzehntelang aufflammender Bürgerkriege und andauernder Fluchtbewegungen, die den immer wieder erneuerten Versuch von Tausenden zur Folge haben, irgendwo sicher anzukommen. 

Auch nach Jahren kehrt keine Beruhigung ein und so müssen sich die Protagonistinnen immer wieder fragen, ob der gewählte Ort – zum Beispiel Beirut, aber auch andere Orte wie das Gebirgsdorf Arsun im Libanon – sicher ist und der Familie weiterhin Schutz bietet. Die Frauen unterschiedlicher Altersstufen, die vom Krieg betroffen sind, werden gezwungen, aufzubrechen und mit ihren Kindern in ein fremdes Land wie die Schweiz oder Frankreich zu ziehen. 



Hinzu kommt, dass keine der Frauen eine glückliche Ehe führt. Die Männer neigen zu Gewaltexzessen, bei denen sie mit Gegenständen wie heißen Kochtöpfen oder Tischlampen nach ihnen werfen. Es entsteht ein wiederkehrendes Muster, so dass diese Gewalttätigkeit von einer Generation auf die nächste weitergegeben wird. Auch die Kinder geraten in die Schusslinie dieser Ehekonflikte, bis hin zu Todesdrohungen gegen die Kinder durch die gekränkten und unglücklichen Väter. "Zweimal hat er seine Kinder töten wollen. Dieser Lump, dieser Tyrann, dieser Verbrecher“, so berichtet Ema, Naimas Tochter, über ihren Vater. Sie ist von Anfang an selbstbewusst und aufsässiger als die anderen Mädchen und so gelingt es ihr, trotz des heftigen Widerstands ihres Vaters in Beirut zu studieren. 

Cover von Jadd Hilal "Flügel in der Ferne" erschienen 2021 bei Lenos; Quelle: Verlag
Jadd Hilal, geboren 1987 in der Nähe von Genf, studierte französische Philologie und englische Literatur in Frankreich. Heute arbeitet er als Lehrer in Paris. "Flügel in der Ferne“ (im französischen Original "Des ailes au loin“) ist sein erster Roman, für den er in Frankreich zahlreiche Preise erhielt. "Jadd Hilal hat einen leicht erzählten Roman geschrieben, der jedoch immer wieder durch die Oberfläche dringt und mithilfe präziser Beobachtungen eindringliche Porträts erschafft,“ schreibt Volker Kaminski in seiner Rezension.“Das ist große Kunst auf kleinem Raum.“

Katastrophen, Todesfälle und Tröstliches

Ein Reiz des beim Lenos Verlag in Zürich erschienenen Romans besteht in seiner unwägbaren Gemengelage aus Katastrophen, Todesfällen und kurzzeitig tröstlichen Ereignissen wie Geburten in der Familie.



Einer der Väter begeht Suizid, nachdem er seinen Chef ermordet hat. Ein Milizionär, der Verlobte einer der Töchter, kommt auf geradezu groteske Weise ums Leben: Bei seiner Verlobungsfeier schießt er mit seiner Pistole "zur Feier des Ereignisses in die Decke. Die Kugel prallte an die Wand und traf ihn mitten ins Herz.“ 

Doch der Grundton des Romans bleibt nachdenklich und melancholisch. Die Familie durchlebt viele Zerreißproben, die Kinder müssen häufig die Schule wechseln, während die Eltern weite Reisen unternehmen, um neue berufliche Herausforderungen anzunehmen, so etwa wenn Ema mit ihrem Mann Sahi nach Genf zieht, um für die UNO zu arbeiten. Auch von diesem diplomatischen Milieu weiß Hilal einiges zu erzählen. 

Der Roman, der gerade mal 200 Seiten umfasst, überbrückt einen Zeitraum von mehr als 70 Jahren. Auf dieser schmalen Grundlage bietet der Text einen Chor unterschiedlicher Stimmen mit wechselnden Perspektiven. Die frühreife Dara, älteste Tochter jener politisch arbeitenden Eltern, ist schon mit vier Jahren an Alkohol gewöhnt, weil sie die Bierreste aus den Gläsern der Erwachsenen ausschleckt. Sie verblüfft ihre Umwelt mit klugen Antworten und klammert sich emotional an ihre Großmutter. 

Mit der Zeit entwickelt Dara ein so starkes Verantwortungsgefühl, dass sie mit 17 Jahren heiratet und nach Beirut zieht. Aber auch sie muss erneut fliehen und lässt sich nach ihrer Scheidung mit den Kindern in Frankreich nieder. Selbst nach dem Waffenstillstand, den die UNO im Jahr 2006 im Libanonkrieg ausgerufen hat, fühlt sie sich nur in Frankreich sicher. Eine Rückkehr in den Libanon – so sehr sie sich danach sehnt – scheint ihr ungewiss und zu riskant: "Der Libanon ist instabil. Ist es schon immer gewesen. Deswegen meine hartnäckige Weigerung, mit den Kindern zurückzukehren.“ 

Die Erkenntnis, zu der sie schließlich gelangt, gilt universell für den gesamten weiblichen Teil der Familie. Sie sieht ein, dass ihr Leben "ein Tauziehen zwischen der libanesischen Leichtigkeit auf der einen Seite und dem französisch-schweizerischen Verantwortungsbewusstsein auf der anderen war.“ 

Zu den Grundmotiven des Romans gehört das Auftauchen von Vögeln und Vogelschwärmen am Himmel. Sie deuten den ständigen Ortswechsel an, das Verlassen der Heimat und die Ungewissheit des Ankommens, verkörpern jedoch auch die Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit, nach Frieden und Geborgenheit. 

Jadd Hilal hat einen leicht erzählten Roman geschrieben, der jedoch immer wieder durch die Oberfläche dringt und mithilfe präziser Beobachtungen eindringliche Porträts erschafft. Das ist große Kunst auf kleinem Raum. Unbedingt lesenswert.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2022



Jadd Hilal, "Flügel in der Ferne“, aus dem Französischen von Barbara Sauser, Lenos Verlag Zürich, 202 S., 2021