Schreckgespenst Muslimbruderschaft

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Aufstände in Ägypten neigt die westliche Politik gegenüber der arabischen Welt zu Schwarz-Weiß-Denken: Entweder ein starker, pro-westlicher Diktator wie Mubarak – oder aber die Islamische Republik droht. Von Michael Lüders

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Aufstände in Ägypten neigt die westliche Politik gegenüber der arabisch-islamischen Welt zu Schwarz-Weiß-Denken: Entweder ein starker, pro-westlicher Diktator wie Mubarak – oder aber die Islamische Republik droht. Von Michael Lüders

​​ Was gegenwärtig in Tunesien und Ägypten geschieht, ist eine historische Zäsur. Die Ära der arabischen Despoten, alter Männer und ihrer Clane, nähert sich ihrem Ende. Ein Aufbruch durchaus vergleichbar mit den Ereignissen in Deutschland, als die Berliner Mauer fiel.

Ein Grund zur Freude, wenngleich das Ergebnis dieses Experiments völlig offen ist. Steht am Ende eine Demokratie oder eine neue Unfreiheit, unter anderen Vorzeichen? Niemand vermag heute zu sagen, wo Ägypten in einem Monat, geschweige denn in einem halben Jahr steht. Doch die Botschaft der Demonstranten ist eindeutig: Wir sind das Volk.

Quer durch alle sozialen Schichten reicht der Aufstand, und es dürfte insbesondere den Muslimbrüdern schwer fallen, diesen Protest ideologisch zu missbrauchen. Weder in Tunesien noch in Ägypten noch anderswo in der arabisch-islamischen Welt dürften die Menschen die Neigung verspüren, die eine Diktatur durch eine andere ersetzt zu sehen, sei sie islamistischer oder sonstiger Couleur.

Ungewisse Zukunft

Wie immer, wenn Geschichte geschrieben wird, kennt niemand das Drehbuch. Wird das Militär in Ägypten, Tunesien und anderswo bereit sein, seine Macht mit der Zivilgesellschaft zu teilen?

Wird die vorherrschende Mentalität aus Clan- und Vetternwirtschaft zu überwinden sein – eine Mentalität, die allenthalben anzutreffen ist, oben wie unten in der Hierarchie? Wie ist "good governance", ein verantwortungsbewusstes Handeln der Regierenden gegenüber ihren Wählern, durchzusetzen – nach Jahrzehnten einer schlichten Selbstbedienungsmentalität aus der Staatskasse?

​​Wie ist das Bildungssystem zu reformieren? Die Bevölkerungsexplosion einzudämmen? Wie Jobs schaffen, Perspektiven für die Jugend eröffnen?

Die Herausforderungen, die Probleme sind immens. Und dennoch: der Geist ist aus der Flasche, die Uhr nicht mehr zurückzudrehen. Umso mehr verwundert es, wie zurückhaltend sich europäische und deutsche Politiker über die Entwicklung in Tunesien und Ägypten äußern.

Anstatt sich mit den Menschen solidarisch zu zeigen, die eigene, seit Jahrzehnten erprobte Rhetorik in Sachen Demokratie, Freiheit und Menschenrechten an der Realität zu messen, zeigen sie sich in erster Linie besorgt – über Chaos und Anarchie und vor allem mit Blick auf die Frage, ob denn nun die Islamisten die Macht übernehmen könnten.

Es dürfte ihnen schwer fallen. In Tunesien fallen sie kaum ins Gewicht, in Ägypten hingegen ist die Muslimbruderschaft die einzige halbwegs organisierte Kraft. Das hat historische Gründe, vor allem war sie stets zu stark, um sie, wie alle anderen Parteien und zivilgesellschaftliche Bewegungen, schlichtweg verbieten zu können.

Und hier das Paradox: Sie sind verboten, aber als Einzelpersonen überall präsent, in allen staatlichen Einrichtungen. Ein Ventil aus Sicht des ancien régime, um die Unzufriedenheit wenigstens ein wenig kanalisieren zu können.

Vorherrschendes Schwarz-Weiß-Denken

Gleichzeitig ein Bollwerk gegen die politische Linke. Diese vergleichsweise "privilegierte" Position erklärt auch, warum sich die Muslimbrüder schwer damit taten, den Aufstand im eigenen Land gutzuheißen. Erst nachdem der Zug bereits Fahrt aufgenommen hatte, sind sie aufgesprungen.

Essam el-Erian, eine der Führungspersonen innerhalb der Muslimbruderschaft in Ägypten; Foto: AP
Kein monolithischen Block: Ägyptens Muslimbrüder bilden keine homogene Bewegung. Pragmatiker sind in ihren Reihen ebenso zu finden wie Ideologen, schreibt Lüders.

​​Westliche Politik gegenüber der arabisch-islamischen Welt neigt zu Schwarz-Weiß-Denken. Entweder ein starker, pro-westlicher Diktator wie Mubarak – oder aber die Islamische Republik droht.

Für alle islamischen Staaten gilt: Die relative Stärke islamistischer Gruppen ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, weniger der Sehnsucht gläubiger Muslime auf einen Gottesstaat. Sobald es politische Alternativen gibt, sind die Islamisten nur noch eine Gruppierung von vielen. Sie müssen dann um ihre Anhänger werben und können es nicht länger bei religiösen Parolen belassen, wollen sie nicht politisch an den Rand gedrängt werden.

Zugespitzt gesagt: Orientieren sich islamistische Parteien an Saudi-Arabien oder Teheran, verlieren sie an Rückhalt. Gehen sie den Weg der türkischen AKP, gibt es auch keinen Grund mehr, sie aus Sicht des Westens zu fürchten.

Hinzu kommt, dass islamistische Bewegungen, das gilt auch für die Muslimbrüder, keine homogene Bewegung darstellen, keinen monolithischen Block. Pragmatiker sind in ihren Reihen ebenso zu finden wie Ideologen. Wer sich am Ende durchsetzt, ist letztendlich eine Frage der Rahmenbedingungen und des Umfeldes, in der die betreffende Bewegung agiert. Die Hamas im Gazastreifen beispielsweise hat keinen Grund, sich zu mäßigen. Die Muslimbrüder schon.

Entzauberung des politischen Islam

Die westliche Wahrnehmung des Islam ist überwiegend von Angst und Hysterie geprägt. Das verleitet zu politischen Kurzschlüssen, zu einer verzerrte Wahrnehmung. Die Muslimbrüder sind keine Bewegung, der man zutrauen sollte, die Probleme Ägyptens zu lösen. Sie sind aber auch nicht eine Marionette Teherans.

Die Welt wird nicht untergehen, sollten sie an einer künftigen Regierung beteiligt sein. Im Gegenteil, es wird vermutlich zu ihrer Entzauberung beitragen. Hinzu kommt: In einer demokratischen arabischen Gesellschaft, die ihrer Bevölkerung Perspektiven zu bieten hat, schwindet der Rückhalt für radikale oder gar terroristische Strömungen.

Mohammad ElBaradei; Foto: AP
Von westlichen Politikern und Medien als politische Alternative zum autoritären Mubarak-Regime kaum wahrgenommen: Friedensnobelpreisträger Mohammad ElBaradei während einer Kundgebung in Kairo.

​​Tunesien, Ägypten und die Staaten, die ihrem Weg folgen werden, müssen sich politisch neu erfinden. Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen sind ja nur in Ansätzen vorhanden und fangen jetzt gewissermaßen bei Null an.

Allerdings habe sie einen mächtigen Verbündeten: das Internet. Es fehlen demokratische Traditionen – Ägypten hat seit 1952 nur drei Präsidenten gehabt, Tunesien seit 1956 nur zwei. Keine Frage, die Entwicklung wird von Rückschlägen begleitet werden.

Verhängnisvolle Fehler sind ebenso wenig auszuschließen wie alt-neue Machstrukturen, in denen Wendehälse den Ton angeben oder bestehende Hierarchien in neuem Gewand weiterbestehen – ähnlich wie in Russland, wo den Kommunisten die Oligarchen folgten.

Aber nicht allein arabische Politik wird sich neu erfinden müssen. Das gilt gleichermaßen für westliche Politik. Ein "weiter so" kann es nicht geben, auch nicht im Umgang mit Israel, wo die Regierung Netanjahu blind an Mubarak festhält.

"Friedensprozess" als reines Schlagwort

Die palästinensische Frage ist nicht zu lösen, indem man einen "Friedensprozess" propagiert, der nur noch ein Schlagwort ist. Israel zeigt keinerlei Bereitschaft, die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates zuzulassen. Hier bedarf es mehr als warmer Worte aus Berlin, Brüssel oder Washington, um einen Durchbruch zu erzielen.

Erstaunlich, dass im Irak und Afghanistan Kriege geführt wurden und werden, um angeblich dort der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen.

Das hat im Irak Hunderttausende das Leben gekostet und die Glaubwürdigkeit des Westens, sofern noch vorhanden, schwer beschädigt. Zweistellige Milliardenbeträge sind für diese Kriege ausgegeben worden, vielfach zum Fenster hinausgeworfen.

Der tunesische und ägyptische Weg ist der bessere. Politiker hierzulande tun sich schwer mit dieser Einsicht.

Michael Lüders

© Qantara.de 2011

Dr. Michael Lüders war langjähriger Nahostkorrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT. Er lebt heute als Politik- und Wirtschaftsberater, Publizist und Autor in Berlin.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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