Eine Region in Flammen

Unter den heutigen geopolitischen Risiken ist keines größer als der lange Bogen der Instabilität, der sich vom Maghreb bis an die afghanische Grenze erstreckt. Während der Arabische Frühling immer mehr zu einer fernen Erinnerung wird, leidet die Region zunehmend unter Destabilisierung. Von Nouriel Roubini

Von Nouriel Roubini

Tatsächlich ist das Schicksal der drei Staaten des ursprünglichen Arabischen Frühlings ernüchternd: Libyen ist inzwischen ein gescheiterter Staat, Ägypten hat erneut ein autoritäres Regime und Tunesien wurde durch Terroranschläge wirtschaftlich und politisch destabilisiert.

Die Gewalt und Instabilität Nordafrikas greift nun auf das Afrika südlich der Sahara über. In der Sahelzone – eine der weltweit ärmsten und ökologisch am meisten geschädigten Regionen – breitet sich der Dschihadismus aus, ebenso wie weiter östlich am Horn von Afrika. Und so wie in Libyen herrscht auch im Irak, in Syrien, im Jemen und in Somalia Bürgerkrieg, und auch sie drohen, zu gescheiterten Staaten zu werden.

Durch die Unruhen in der Region (zu deren Ausbruch die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bei ihren Bemühungen zum Sturz der Regimes im Irak, in Libyen, in Syrien, in Ägypten und anderswo beigetragen haben) werden auch bislang sichere Staaten unterminiert.

Der Einfluss der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak wirkt destabilisierend auf Jordanien, den Libanon und jetzt sogar auf die Türkei, deren Regierung unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zunehmend autoritär wird. Und im Zuge fehlender Lösungen im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern bleibt die Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas in Gaza sowie der Hisbollah im Libanon.

Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien

In diesem wechselhaften regionalen Umfeld findet im Irak, in Syrien, im Jemen, in Bahrain und im Libanon ein großer Stellvertreterkrieg zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran statt. Zwar könnte durch das jüngste Nuklearabkommen mit dem Iran das Risiko der Verbreitung von Atomwaffen gemildert worden sein, aber die dortigen Politiker erhalten durch die Aufhebung der wirtschaftlichen Sanktionen wieder mehr finanzielle Ressourcen zur Unterstützung ihrer schiitischen Stellvertreter.

Zerstörtes Homs, Syrien; Foto: Getty Images/AP/D. Vranic
"Wenn der Westen den Nahen Osten ignoriert, anstatt mit Diplomatie und finanziellen Ressourcen Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen, lediglich mit militärischen Mitteln beantwortet, wird sich die Instabilität der Region nur noch verschlimmern", warnt Roubini.

Weiter im Osten drohen auch Afghanistan (wo die erneut zum Leben erwachten Taliban wieder an die Macht kommen könnten) und Pakistan (wo die Islamisten eine andauernde Bedrohung der Sicherheit darstellen) als Staaten zu scheitern.

Und obwohl inzwischen ein Großteil der Region in Flammen steht, sind die Ölpreise erstaunlicherweise kollabiert. In der Vergangenheit wurden durch die geopolitische Instabilität der Region drei weltweite Rezessionen ausgelöst: Der Yom-Kippur-Krieg von 1973 zwischen Israel und den arabischen Staaten verursachte ein Ölembargo mit einer Verdreifachung der Preise und damit die Stagflation (hohe Arbeitslosigkeit plus Inflation) von 1974-1975.

Ein weiteres Embargo mit Preisschock folgte auf die iranische Revolution von 1979, ebenfalls mit weltweiter Stagflation in den Jahren 1980-1982. Und die irakische Invasion in Kuwait des Jahres 1990 führte zu einem weiteren Ölpreishoch, das die Rezession in den USA und im Rest der Welt der Jahre 1990-1991 auslöste.

Keine "Angstprämie" auf die Ölpreise

Dieses Mal ist die Instabilität im Nahen Osten viel stärker und weiter verbreitet. Aber momentan scheint es keine "Angstprämie" auf die Ölpreise zu geben. Im Gegenteil: Seit 2014 sind die Ölpreise drastisch gefallen. Wie konnte dies geschehen?

Der wichtigste Grund dafür könnte sein, dass die Unruhen im Nahen Osten im Gegensatz zur Vergangenheit keinen Angebotsschock ausgelöst haben. Sogar in den Teilen des Irak, der jetzt unter der Kontrolle des „Islamischen Staates“ stehen, werden weiter Öl gefördert, außer Landes geschmuggelt und auf den Weltmärkten verkauft. Und die Aussicht darauf, dass die Sanktionierung der iranischen Ölexporte ausläuft, bedeutet einen erheblichen Zufluss ausländischer Direktinvestitionen, die zur Steigerung der Produktions- und Exportkapazitäten eingesetzt werden können.

Nouriel Roubini; Foto: dpa/picture-alliance
Der US-amerikanische Nationalökonom Nouriel Roubini ist Vorsitzender von Roubini Global Economics und Professor an der Stern School of Business der New York University. Er ist auch als "Dr. Doom" bekannt. Der Name wurde Roubini deshalb verliehen, weil er 2008 die Immobilienblase vorhersagte.

In der Tat gibt es weltweit ein Überangebot an Öl. In Nordamerika haben die Schiefergasrevolution in den USA, der kanadische Ölsand und die Aussichten auf eine Ausweitung der On- und Offshore-Ölförderung in Mexiko (dessen Energiesektor jetzt für private und ausländische Investitionen geöffnet wurde) den Kontinent von den Vorräten in Nahost unabhängiger gemacht. Darüber hinaus verfügt Südamerika von Kolumbien bis hinunter nach Argentinien über enorme Kohlenwasserstoffreserven, ebenso wie Ostafrika von Kenia bis nach Mosambik.

Die Folgen eines "brennenden Nahen Ostens"

Im Zuge dessen, dass die USA auf dem Weg zur Energieunabhängigkeit sind, besteht das Risiko, dass Amerika und seine westlichen Verbündeten den Nahen Osten als strategisch weniger wichtig ansehen. Diese Ansicht beruht auf Wunschdenken: ein brennender Naher Osten kann die Welt auf viele Arten destabilisieren.

Erstens können einige dieser Konflikte zu einer tatsächlichen Angebotsunterbrechung wie bereits in den Jahren 1973, 1979 und 1990 führen. Zweitens wird Europa durch Bürgerkriege, die Millionen von Menschen in Flüchtlinge verwandeln, wirtschaftlich und sozial destabilisiert, was zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Weltwirtschaft führen kann. Und die Volkswirtschaften und Gesellschaften von Frontstaaten wie dem Libanon, Jordanien und der Türkei, die bereits jetzt Millionen solcher Flüchtlinge aufnehmen, sind noch größeren Risiken ausgesetzt.

Drittens führt die andauernde Armut und Hoffnungslosigkeit von Millionen junger Araber zu einer neuen Generation verzweifelter Dschihadisten, die dem Westen die Schuld für ihre Verzweiflung geben. Einigen von ihnen werden zweifellos nach Europa und in die USA gelangen und dort Anschläge verüben.

Wenn also der Westen den Nahen Osten ignoriert oder die Probleme der Region, anstatt mit Diplomatie und finanziellen Ressourcen Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen, lediglich mit militärischen Mitteln beantwortet (für ihre Kriege in Afghanistan und im Irak haben die USA zwei Billionen US-Dollar ausgegeben und damit nur noch mehr Chaos erzeugt), wird sich die Instabilität der Region nur noch verschlimmern. Eine solche Entscheidung würde Europa und die USA – und damit die Weltwirtschaft – für Jahrzehnte belasten.

Nouriel Roubini

© Project Syndicate 2015

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff