"Die Religion dient den Menschen"

Der höchste schiitische Geistliche im Libanon, Groß-Ayatollah Fadlallah, ist gestorben. Der Vordenker der schiitischen Hizbullah im Libanon unterstützte einerseits den bewaffneten Kampf gegen Israel, verurteilte aber andererseits den islamistischen Terrorismus. Fadlallah bemühte sich auch um ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen im Libanon. Von Stephan Rosiny

Muhammad Husain Fadlallah; Foto: AP
Der Groß-Ayatollah Muhammad Husain Fadlallah war eine religiöse Autorität auch über die Grenzen des Libanons hinaus. Seine Anhängerschaft reichte bis in den Irak, Iran, die Golfstaaten und den Westen.

​​ Im Süden Beiruts steht mitten im "Hizbollah-Viertel" Harat Hreik ein zehnstöckiges, nach modernsten Standards eingerichtetes Krankenhaus. Hier werden auch mittellose Patienten aufgenommen, die sich die privaten Krankenhäuser des Libanon nicht leisten können. Es ist Teil eines umfangreichen Netzwerks aus sozialen, religiösen und pädagogischen Einrichtungen, die der hochrangige schiitische Geistliche Muhammad Husain Fadlallah mithilfe der religiösen Abgaben seiner Anhänger aufgebaut hat. Am 4. Juli 2010 verstarb Muhammad Husain Fadlallah nach langjähriger Krankheit in "seinem" Bahman-Krankenhaus.

Fadlallah war die höchste religiöse Autorität der schiitischen Gemeinschaft im Libanon, ein "Mardscha at-Taqlid" (Vorbild der Nachahmung), dessen Anhängerschaft in den Irak, Iran, die Golfstaaten und den Westen reichte. Gläubige Schiiten wählen sich ein solches "Vorbild der Nachahmung" wie ihn, leisten seinen Rechtsgutachten Folge und entrichten ihre religiösen Pflichtabgaben an ihn. Diesen Gehorsam erbieten sie ohne Zwang und Kontrolle, weil sie fest daran glauben, dass er ihnen als weiser Religionsgelehrter und als würdiges Vorbild den Weg eines gottgefälligen und sündenfreien Lebens führen werde.

Seine Genealogie leitete "der Sayyid", wie Fadlallah ehrerbietig von seinen Anhängern genannt wurde, vom zweiten Imam und Prophetenenkel al-Hasan ab. Als unmittelbarer Nachkomme Muhammads hat er Anrecht auf diesen Ehrentitel und auf das Tragen eines schwarzen Turbans als Insignie seiner Abstammung. Neben diesem Erbcharisma verfügte Fadlallah über große Ausstrahlung und hohes Ansehen als spiritueller und lebensweiser Geistlicher, rationalistischer und fortschrittlicher Denker, als ein kritischer politischer Analytiker und als humorvoller, empathischer Mensch.

Widerstand gegen Saddams Diktatur

Doch den verstorbenen Religionsgelehrten umgab nicht nur die Aura eines Heiligen, sondern auch das Image eines gefährlichen Terroristen, als welchen ihn die USA lange Zeit portraitierten. Fadlallah lebte in einer Zeit voller gesellschaftspolitischer Umbrüche und gewaltsam ausgetragener Konflikte – erst im Irak, wo er 1935 in der schiitischen Schreinstadt Nadschaf geboren wurde und an deren bedeutenden religiösen Hochschulen er studierte und lehrte, und seit 1966 im Libanon, wo 1975 ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach.

Anhänger der Hizbullah; Foto: AP
Fadlallah war an der Gründung der Hizbullah im Jahr 1982 beteiligt. Doch obwohl er immer ein bedeutender Vordenker der Bewegung blieb, war er nie ihr Anführer.

​​ Im Irak engagierte er sich als Mitbegründer der Hizb ad-Da'wa al-Islamiya (Partei des Rufs zum Islam) gegen die Diktaturen. Noch vom Libanon aus unterstützte er die dortige Opposition. Kaum ein Politiker fand so klare Worte gegen Saddam Husain wie Fadlallah, der ihn "den blutrünstigsten Tyrannen der Region" schimpfte.

Dennoch gehörte Fadlallah zu den entschiedenen Gegnern der US-geführten Irak-Invasion von 2003, da er jegliche staatliche Fremdeinmischung ablehnte. Seiner Meinung nach hätte der Tyrann von den Irakern selbst gestürzt werden müssen. Auch seien die Begründungen für die Intervention – Massenvernichtungswaffen, Unterstützung des Terrorismus und die Einführung von Freiheit und Demokratie – heuchlerisch. Die USA hätten Saddam im Krieg gegen den Iran mit eben jenen Massenvernichtungswaffen aufgerüstet, die 2003 den Vorwand für die Invasion lieferten. "Die Iraker werden nicht vergessen, wer Saddam all diese Macht zur Unterdrückung seines Volkes gegeben hat: Amerika", sagte Fadlallah.

Kein blinder Anti-Amerikanismus

Der libanesische Bürgerkrieg von 1975-1990, die zahlreichen Kriege mit Israel, zuletzt im Sommer 2006, sowie die israelische Besatzung der "Sicherheitszone" von 1978-2000 schufen ein Sentiment der Bedrohung, dem schiitische Islamisten mit klandestinen Organisationsformen und militanten Aktionen begegneten.

US-Marin vor der zerstörten US-Botschaft in Beirut 1985; Foto: AP
1985 versuchte die CIA Fadlallah mit einer Autobombe zu töten. Sie unterstellten ihm, als einer der Initiatoren in das Attentat auf eine US-Kaserne in Beirut im Jahr 1983 verwickelt gewesen zu sein.

​​ Fadlallah war ein bedeutender Vordenker und Inspirator der 1982 gegründeten Hizbullah, er war aber nie ihr Führer, als welchen ihn westliche Medien mitunter bezeichnen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass er die beiden Selbstmordattentäter "segnete", die am 23. Oktober 1983 die Hauptquartiere der US-amerikanischen und französischen Kontingente der Multinational Forces (MNF) in Beirut in die Luft sprengten.

Vermutlich setzten innerlibanesische Gegner dieses Gerücht in die Welt, woraufhin die CIA den Geistlichen am 8. März 1985 in einer dicht bewohnten Straße in Bi'r al-Abd mit einer Autobombe zu töten versuchte. Fast 100 Menschen starben und 200 wurden verletzt, doch Fadlallah war aufgehalten worden und blieb wie durch ein Wunder unbeschadet: "Deshalb respektieren wir keine Mahnrede der Amerikaner mehr über die Menschenrechte, die Ablehnung des Terrorismus, über die Freiheit und ähnliches", kommentierte er den Anschlag.

Trotzdem verfiel er in keinen blinden Anti-Amerikanismus – hier differenzierte er zwischen Regierung und Bevölkerung. Fadlallah vertrat die Ansicht, dass besonders im politischen Bereich sich durchaus einiges vom Westen lernen ließe. So lobte er Parteienpluralismus und Demokratie, den Rechtsstaat und die Rechenschaftspflicht der Politiker ihren Bürgern gegenüber.

Gewalt als "chirurgische Operation"

Fadlallah unterstützte nachdrücklich den bewaffneten Widerstand der Hizbullah gegen die israelische Besatzung des Südlibanon. Mit Antisemitismus habe dies nichts zu tun, betonte er, denn man müsse auch dann einen Befreiungskrieg gegen Israel führen, wenn es nur von Muslimen bewohnt wäre, da nicht der Glaube oder gar eine andere Rasse, sondern allein der unrechtmäßige Landraub die Feindschaft begründe.

Fadlallah und Hassan Nasrallah auf einem Poster in Dahiya; Foto: Stephan Rosiny
Dem Personenkult um den Hizbullah-Generalsekretär Hasan Nasrallah stand Ayatollah Fadlallah kritisch gegenüber.

​​ Als ultima ratio seien als Mittel der Selbstverteidigung gegen militärische Ziele auch Selbstmordattentate erlaubt. Gleichwohl forderte er eine strenge Selbstdisziplinierung, denn "Gewalt friert das Problem nur ein, ohne es zu beseitigen oder zu lösen, ja sie wird es verkomplizieren", so Fadlallah.

Wenn der Gegner allerdings keinen Dialog wolle, müsse man Gewalt anwenden, aber "nur unter außergewöhnlichen Umständen, indem die effektivsten zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden." Dies könne die Situation stabilisieren und zu einem Dialog führen. Gewalt sei demnach legitim "als eine Art chirurgische Operation, die man nur anwenden sollte, nachdem alle anderen Methoden ausprobiert worden sind und nur bei Bedrohung des Lebens."

Konkurrenz zu Ayatollah Khamene'i

Strategiewechsel der Hizbullah Anfang der 1990er Jahre wie die Abkehr vom Plan der Errichtung einer Islamischen Republik, die Freilassung der westlichen Geiseln, ökumenische Bemühungen zwischen Schiiten, Sunniten und Christen sowie der Entschluss zur Beteiligung an Parlamentswahlen gingen maßgeblich auf seinen Einfluss zurück.

Ayatollah Ali Khamene'i; Foto: AP
Als die Hizbullah Ali Khamene'i als obersten Rechtsgelehrten anerkannte, kam es zu Spannungen mit Fadlallah.

​​ Seitdem sich Fadlallah 1993 selbst als Mardscha ins Gespräch bringen ließ, kam es allerdings vermehrt zu Spannungen, da die Hizbullah Ali Khamene'i als obersten Rechtsgelehrten anerkannte und Fadlallah nunmehr als Konkurrenten ansah. Umgekehrt stand Fadlallah dem zunehmenden Personenkult um den Generalsekretär Hasan Nasrallah kritisch gegenüber. Der Sommerkrieg 2006 brachte die beiden gegensätzlichen schiitischen Führer indes wieder näher zusammen. Ihre nicht weit entfernt voneinander liegenden Privathäuser wurden während des wochenlangen israelischen Bombardements zerstört.

"Religion dient dem Menschen"

Mit seiner weichen und herzlichen Stimme und seiner mitunter ironischen Art zog Fadlallah auch säkulare Menschen in seinen Bann. Er konnte Religion in einer verblüffenden Weise rational, ja fast schon materialistisch beschreiben. Die Religion, so eine seiner Maximen, diene dem Menschen, und nicht umgekehrt. Sie verändere sich mit den gesellschaftlichen Umständen und begleite die sozialen und wissenschaftlichen Fortschritte der Menschheit.

"Islam ist alles, was dem Menschen nützt", sagte Fadlallah. Den Menschen sei ein gemeinsamer Kern von Werten inhärent, der sich in allen Religionen offenbare, nämlich Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, der Respekt für die Würde und den Glauben anderer Menschen.

Seine Rechtsgutachten (Fatwas) zur gesellschaftlichen Gleichstellung der Frau, zu medizinethischen Fragen, zum Umgang mit Anders- und Ungläubigen sind innovativer als die der meisten muslimischen Reformer. Damit leistete er auch einen wichtigen Beitrag zur Versöhnung in der libanesischen Nachkriegsgesellschaft. Zahlreiche seiner Schüler – darunter auch einige Frauen – tragen sein dynamisches und modernes Islamverständnis weiter.

In den nächsten Jahren wird sich erweisen, ob es einem von ihnen gelingen wird, sich als "Vorbild der Nachahmung" zu etablieren und Fadlallahs unvollendetes Lebenswerk einer aufgeklärten Religiosität und eines vereinten Libanon fortzusetzen.

Stephan Rosiny

© Qantara.de 2010

Dr. Stephan Rosiny ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Er gilt als ein ausgewiesener Kenner der Hizbullah, und hat sich in Monografien und Aufsätzen vor allem mit dem schiitischen Islam im Libanon beschäftigt.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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