Wohin führt der "kulturelle Widerstand"?

Vor Kurzem kamen im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin einheimische und internationale Künstler und Aktivisten eine Woche lang zu Workshops, Vorträgen sowie Aufführungen zusammen, um den zehnten Jahrestag des Freiheitstheaters zu feiern. Von Ylenia Gostoli

Das "Theater der Freiheit", das sich im Flüchtlingslager Jenin befindet, ist eine der bekanntesten palästinensischen Kultureinrichtungen, insbesondere im Ausland. Eröffnet wurde das Festival am 4. April mit einem Schweigemarsch, um gegen den bis heute nicht aufgeklärten Mord an Juliano Mer Khamis, dem Gründer des Theaters, zu protestieren, der vor genau fünf Jahren umgebracht wurde.

Der Mord an Juliano Mer Khamis hat dem Theater einen schweren Schlag versetzt, zumal dessen Mitarbeiter anschließend eine Reihe von Schikanen und willkürlichen Festnahmen ertragen mussten. Zakaria Zubeidi, ein weiterer Mitbegründer des Theaters, war früher Kämpfer der Al-Aksa-Märtyrerbrigade, einem bewaffneten Flügel der Fatah. Er verbrachte drei Jahre im Gefängnis unter "Sicherheitsverwahrung", nachdem Israel seine Begnadigung zurückgezogen hatte.

Mer Khamis selbst stammte ursprünglich aus Nazareth und war der Sohn des palästinensischen Schriftstellers Saliba Khamis und der jüdischen Aktivistin Arna Mer. Sein Projekt war nicht philanthropischer, sondern radikaler Natur. Er betrachtete Kultur nicht als Ersatz für andere Formen von Widerstand. Stattdessen war es sein Ziel, ein authentisches Theaterprojekt zu initiieren, und zwar an einem Ort, an dem man sich dies wohl am wenigsten vorstellen kann: im Flüchtlingslager Jenin.

Eine radikale Präsenz

Mer Khamis' Entschluss, das Theater im Flüchtlingslager zu errichten, wurde von den konservativen Bewohnern des Camps nicht immer begrüßt. Über die Jahre hinweg fanden immer wieder einige Angriffe auf das Theater statt. Es bestand wohl so etwas wie eine "Hassliebe", wie es Nabil Al-Raee, künstlerischer Leiter des Theaters, in einem früheren Qantara-Interview einmal ausdrückte. Das Theater, das einen dreijährigen Dramakurs anbietet, hat viele junge Künstler aus dem Lager und dem Westjordanland ausgebildet, die heute sehr erfolgreich sind. Auch wurden dort mittlerweile über 20 Bühnenstücke aufgeführt, mit denen auch auf Tournee gegangen wurde.

Auf dem jüngsten Festival kamen nun ehemalige Schüler und Künstler zusammen, die bereits vorher mit dem Theater kooperiert hatten. Auch nahmen bekannte darstellende Künstler aus Palästina teil, darunter auch "Quds Arts" aus Jerusalem und die "Palästinensische Zirkusschule".

Schild am Eingang des "Freedom Theatre"; Quelle: Freedom Theatre
2006 gründete Juliano Mer Khamis das "Freedom Theatre" und schafft damit einen Raum, wie er in Jenin einzigartig ist: "Ich möchte den Kindern von Jenin einen Ort ermöglichen, wo sie frei sind. Frei vom prügelnden Vater, frei vom prügelnden Soldaten, frei von der Unterdrückung um sie herum. Ich möchte ihnen ein Stück Normalität geben. Die Kinder haben so viele Angehörige verloren, dass sie emotional wie tot sind. Beim Theaterspielen können sie lernen, wieder etwas zu spüren."

Während des zwanzigtägigen "Forums für kulturellen Widerstand" trafen sich prominente Intellektuelle, darunter der israelische Historiker Ilan Pappe, der palästinensische Autor und Professor Mazin Qumsiyeh und Omar Barghouti, Schriftsteller und Mitgründer der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestition und Sanktionen), um über die Rolle der Kultur im palästinensischen Befreiungskampf zu diskutieren.

Veränderung der eigenen Gesellschaft

Amer Hlehel, Schauspieler und Schriftsteller aus Haifa, war bereits bei der Eröffnungsnacht des Freiheitstheaters vor zehn Jahren aufgetreten. Am Festival nahm er mit "Taha" teil, einer von ihm geschriebenen Solo-Show, bei der er auch Regie führte. Sie handelt vom Leben des palästinensischen Poeten Taha Muhammad Ali. "Juliano wollte kein sozialkritisches Theater inszenieren, sondern wirkliche Kunst schaffen", erklärt Hlehel. "Es ging ihm primär um kulturellen Widerstand, was eine Veränderung unserer Gesellschaft voraussetzt. Und zwar aus dem Grund, weil wir die andere Seite nicht wirklich beeinflussen können. Wir sollten uns daher auf die positive Veränderung unserer eigenen Gesellschaft konzentrieren, und ihr die Möglichkeit geben, Dinge neu zu überdenken und sich geistig zu öffnen", so Hlehel.

Ilan Pappe reflektierte während seiner Rede im Forum über Mer Khamis' Arbeit in Hinblick auf das, was er auch das palästinensische "Projekt der Befreiung" nennt, und über seine bekannte Position als Fürsprecher einer Einstaatenlösung, die allen Bürgern vollständige Gleichheit garantieren sollte.

"Das Projekt der Befreiung muss eine Phase der Neuverteilung von Ressourcen beinhalten, was auch bedeutet, dass Palästina-Rückkehrer einen Teil der Demographie verändern", so Pappe. "Dies ist allerdings etwas, das sich die meisten [Israelis], die über eine Einstaatenlösung sprechen, nicht vorstellen können. Juliano hat aufgrund seiner persönlichen Umstände jeden Tag die Vorstellung von Segregation als Frieden, die Vorstellung von Ausschluss als Frieden und die Vorstellung von Autonomie als Frieden in Frage gestellt", fuhr Pappe fort.

Teilnehmer am "Forum für kulturellen Widerstand" vor dem Freedom Theatre; Foto: Ylenia Gostoli
Mer Khamis‘ Erbe und dessen „Projekt der Befreiung“ lebt auch fünf Jahre nach seiner Ermordung weiter in den Köpfen der Menschen fort: Auf dem jüngsten Festival kamen ehemalige Schüler und Künstler zusammen, die bereits vorher mit dem "Freedom Theatre" kooperiert hatten. Dieses Mal nahmen auch bekannte darstellende Künstler aus Palästina teil, darunter auch "Quds Arts" aus Jerusalem und die "Palästinensische Zirkusschule".

Für Nabil Al-Raee, den künstlerischen Leiter des Theaters, muss die Rolle kultureller Einrichtungen darin bestehen, das zu tun, woran die Parteien bislang gescheitert sind – nämlich die Palästinenser jenseits ihrer politischen Grabenkämpfe zu einen.

"Die Menschen vertrauen den politischen Parteien und der Führung im Allgemeinen nicht mehr", gab Al-Raee, der bei der ersten Produktion des Theaters im Jahr 2006 Regie führte, zu bedenken. "Meiner Meinung nach ist Kultur die beste Methode, die Menschen zu vereinen und ihnen bewusst zu machen, was um sie herum geschieht." Und dies beinhaltet seiner Ansicht nach auch die Bemühungen, die Kultur selbst zu vereinen, um die geografische Fragmentierung, die den Palästinensern aufgebürdet wurde, aufzuheben. Dies sollte nicht nur durch Ad-hoc-Zusammenarbeit geschehen, sondern auch auf institutioneller Ebene.

"Was ich meine, ist eine größere Gemeinsamkeit auf ganz praktische Art und Weise, die zumindest der neuen Generation Hoffnung geben kann. Wir sollten uns zusammenschließen und ernsthaft fragen, was wir eigentlich genau wollen."

Ylenia Gostoli

© Qantara.de 2016

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff