Emanzipation aus dem Geiste der Scharia

Die in Frankreich lebende Soziologin Zahra Ali stellt in ihrem Buch "Islamische Feminismen" bedeutsame feministische Ansätze aus der gesamten muslimischen Welt vor: sowohl aus Malaysia als auch dem Iran, sowohl aus Syrien als auch aus Marokko oder Ägypten. Claudia Kramatschek hat das Buch gelesen.

Von Claudia Kramatschek

"Umm Salama, die Frau des Propheten Muhammed, soll eines Tages zu ihm gesagt haben: "Warum spricht der Koran nicht von uns Frauen, so wie er doch von den Männern spricht?" Noch am selben Tage verkündete der Prophet beim Mittagsgebet von seinem Minbar herab: "Hört! Folgendes teilt uns Gott in seinem Koran mit: Ihr Herr erhörte sie mit den Worten: Ich werde keine Handlung unbelohnt lassen, die einer von euch begeht, gleichviel ob männlich oder weiblich. Ihr gehört ja als Gläubige zueinander ohne Unterschied des Geschlechts."

Mit diesem Vers-Ausschnitt aus Sure 3 eröffnet Zahra Ali ihren Band "Islamische Feminismen". Es ist ein programmatischer Vers. Denn wer in europäischen Breiten an "den Islam" denkt, denkt allzu gerne als erstes an die vermeintlich im Koran festgelegte Unterdrückung der Frau – obwohl dieses Phänomen in vielen Religionen der Welt zu Hause ist.

Kein Widerspruch zwischen Islam und Feminismus

Umso überraschter wird man nach der Lektüre von Alis instruktivem Buch sein, einer Sammlung wegweisender Artikel von muslimischen Forscherinnen und Aktivistinnen. Ali, die spezialisiert ist auf dem Gebiet "Geschlecht und Islam" und sich seit vielen Jahren in muslimischen sowie feministischen Bewegungen engagiert, zeigt nämlich, dass Islam und Feminismus sehr wohl zusammen gehen. Und sie zeigt, dass eben jene muslimischen Feministinnen, die in diesem Band (übrigens dem ersten seiner Art auf europäischem Boden) zu Wort kommen, die Frage der Geschlechtergleichheit dezidiert aus dem Koran selbst ableiten.

Muslimin liest den Koran in der Camiine-Moschee in Dresden; Foto: dpa/picture-alliance
Den Koran gegen das Patriarchat wenden: Nach Auffassung Margot Badrans ist es eine Priorität des islamischen Feminismus, sich direkt mit dem grundlegenden Text des Islam zu befassen, dem Koran.

Ali stellt dafür feministische Ansätze aus der gesamten islamischen Welt vor. Denn ungeachtet aller Gemeinsamkeiten der hier versammelten Autorinnen ist es Ali dennoch wichtig, auf die auch regionalen Differenzen und damit auf die kulturelle Vielfalt innerhalb dieser spezifisch feministischen Bewegung hinzuweisen – nicht zuletzt, weil gerade "der Islam" gerne als monolithische Einheit gesehen wird.

Im Zentrum der hier vorgestellten Ansätze aber steht bei allen Autorinnen eins: die auch epistemologisch bedeutsame, da grundlegende Unterscheidung zwischen der von Menschen, was heißt: von Männern gemachten Auslegung des islamischen Rechts – Fiqh genannt – und dem islamischen Weg an sich – der Scharia – wie er von Gott festgelegt und im Koran zum Ausdruck gebracht worden ist.

Der Koran aus weiblicher Sicht

Darauf verweist etwa die in den USA lehrende Historikerin Margot Badran, eine Pionierin des islamischen Feminismus, in ihrem Beitrag: "Die islamische Rechtswissenschaft (Fiqh), die sich in ihrer klassischen Form im neunten Jahrhundert konsolidierte, war selbst tief von den patriarchalen Denk- und Verhaltensweisen ihrer Zeit durchdrungen. Eben diese patriarchalisch gefärbte Rechtsprechung hat die verschiedenen zeitgenössischen Formulierungen der Scharia geprägt. ... Daher ist es eine Priorität des islamischen Feminismus, sich direkt mit dem grundlegenden Text des Islam zu befassen, dem Koran."

Die pakistanische Aktivistin Asma Barlas; Foto: Ithaca College
Die pakistanische Aktivistin Asma Barlas argumentiert, dass gerade der kompromisslose Monotheismus des Islam, sprich: das starre Primat des göttlichen Gesetzes, Aussicht biete auf eine wirkliche Gleichstellung der Frauen.

Es gilt also, den Koran einer spezifisch weiblichen Re-Lektüre zu unterziehen – was erstaunliche und überraschende Schlussfolgerungen nach sich ziehen kann, wie etwa der Beitrag der pakistanischen Autorin und Aktivistin Asma Barlas zeigt. Denn Barlas argumentiert, dass gerade der kompromisslose Monotheismus des Islam, sprich: das starre Primat des göttlichen Gesetzes, Aussicht biete auf eine – Zitat – "echte Gleichstellung der Frauen":

"Es ist das sittliche Handeln in Übereinstimmung mit den Unterweisungen des Koran und nicht die geschlechtliche Identität, das die Rolle und die Subjektivität des Menschen im Islam definiert. Nicht nur ist im Koran weder von Ähnlichkeit noch von einem Unterschied zwischen den Geschlechtern die Rede – wie in der abendländischen patriarchalen Tradition, wo die Frau als minderwertiges Wesen dargestellt wird und wo Unvereinbarkeit, Ungleichheit, ein Missverhältnis zwischen den Geschlechtern herrschen – er schreibt dem Geschlecht auch keine sozialen Bedeutungen (Gender) oder spezifischen Eigenschaften zu."

Scharia als Verhandlungsargument in den Händen der Frauen

Die iranische Rechtsanthropologin Ziba Mir-Hosseini wiederum – Gründerin eines internationalen Netzwerkes für Gleichheit und Gerechtigkeit in der muslimischen Familie – propagiert gar die weibliche Emanzipation aus dem Geiste der Scharia – einer Scharia wohlgemerkt, die von der jahrhundertealten Verzerrung durch den männlichen Blick befreit worden ist: "Die Scharia ist auch ein Verhandlungsargument in den Händen der Frauen geworden, und viele von ihnen nutzen es sehr effektiv vor den Gerichten. So ist es einigen Frauen gelungen, eben jene Elemente, die den Männern in der Ehe ihre Macht verleihen, umzuwenden, um sie zahlen zu lassen, buchstäblich und bildlich gesprochen. In anderen Worten hat sich die 'Wiedereinführung der Scharia' im Iran tatsächlich als eine der Hauptursachen für die Auflösung von Ehen erwiesen und einen sprunghaften Anstieg der Scheidungsrate verursacht."

Dies aber würde letztlich bedeuten, dass gerade der politische Islam die feministischen Djinns aus der Lampe gelockt hätte. Man kann dies nur wünschen – umso mehr, da der islamische Feminismus, wie Ali zugibt – auch innerhalb der islamischen Welt noch immer umstritten ist: "Einerseits wird er von jenen Feministinnen in Frage gestellt, die die Religion, und insbesondere den Islam, als antinomisch zur Emanzipation der Frauen betrachten. ... Auf der anderen Seite meinen manche Musliminnen, dass es sich dabei um eine Okzidentalisierung des Islam handle; sie fassen das muslimische Denken als einen abgeschlossenen Rahmen auf, der jeder Dynamik von Erneuerung und Wiederlektüre feindlich gegenüber steht."

Eben solch einer Vorstellung eines "abgeschlossenen muslimischen Denkens" läuft dieser Band auf erfrischende und erhellende Weise zuwider. Und er macht klar: die westliche Fixierung auf das Opferbild der islamischen Frau gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.

Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2014

Zahra Ali (Hg.): Islamische Feminismen. Aus dem Französischen übersetzt von Christian Leitner. Passagen Verlag, Wien 2014, 216 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de