Von der Liebe zur Schrift

Der poetische Roman "Die Nacht der Kalligraphen" erzählt vom wechselhaften Leben der Rikkat Kunt, eine der wenigen türkischen Kaligraphinnen. Jan Valk hat das Buch gelesen.

​​Wenn man dem Mythos von Theut und Thamus glauben darf, dann beginnt die Entdeckung der Schrift mit einem Streitgespräch: Denn als der göttliche Erfinder Theut sein neuestes Produkt dem ägyptischen König Thamus anzupreisen versucht, reagiert dieser mit Ablehnung.

Anders als ihr Erfinder, hält Thamus die Schrift nicht für ein Mittel, das die Menschen klüger macht und ihr Gedächtnis schärft, sondern für das genaue Gegenteil: Für etwas, was die Gefahr in sich birgt, die Erinnerung zu verdrängen und die Klarheit und Eindeutigkeit des lebendigen Gesprächs durch Unklarheit und Vieldeutigkeit zu ersetzen.

Das Gesprochene ist das Leben, die Schrift jedoch verwandt mit dem Tod – denn wie alles, was leblos ist, kann sie weder auf Fragen antworten noch Widerrede einlegen.

Tod und Schrift – nahe Verwandte

Auch Yasmine Ghatas Debütroman "Die Nacht der Kalligraphen" erzählt eine Geschichte der Schrift. Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an das Schreiben; und an all jene, die ihr ganzes Leben dem kalem – der Schreibfeder aus Schilfrohr – verschrieben haben.

Auch für sie sind Tod und Schrift nahe Verwandte: Die Ich-Erzählerin beginnt ihre Lebensgeschichte sogar vom Ende her – mit ihrer eigenen Beerdigung. Sie erzählt ihr Leben aus dem Tod heraus; ein Leben, das untrennbar verbunden ist mit der Tätigkeit des Schreibens.

Denn die Erzählerin ist Rikkat Kunt (1903-1987), Großmutter Yasmine Ghatas und eine der wenigen Kalligraphinnen in der türkischen Geschichte. Dennoch, daran lässt das Buch keinen Zweifel, ist die Schrift von der hier die Rede ist, alles andere als tot:

Sie erweist sich als ein Medium, in dem all das einen lebendigen Schutzraum findet, das durch Schweigegebote und Unterdrückungsmechanismen ausgelöscht zu werden droht: das Leise, Intime und Unzeitgemäße – das, was sich nicht unmittelbar artikulieren kann oder Gefahr läuft, übertönt zu werden vom Lärm der "großen Geschichte".

Die Kalligraphie als Instrument der Widerrede

Ghatas Roman ist hierbei in ganz unterschiedlicher Hinsicht bemerkenswert: Er ist nicht nur ein atmosphärisch dichtes, sinnlich-poetisches Erzählstück, an der Lebensgeschichte Rikkat Kunts werden auch die enormen Umbrüche und Veränderungen sichtbar, die dieses Leben mit umspannten: die Auflösung des Osmanischen Reiches und die Geburt der jungen Türkei, die Verwandlung des alten Istanbuls in eine moderne Metropole.

Rikkat, die im elterlichen Yali, der Holzvilla am Bosporus, aufwächst und früh dem groben, wenig an ihr interessierten Zahnarzt Ceri versprochen wird, entdeckt die Kalligraphie als eine Technik der Behauptung und des stillen Widersprechens:

"Ich übte mich in Kalligraphie, um meine Hand darüber hinwegzutrösten, daß sie so voreilig versprochen worden war. Die Buchstaben zu verrücken, die Zeilen aufzubrechen, das war meine Art, gegen diese Hochzeit zu protestieren."

Gelehrte und von Gott beseelte Greise

Sie beginnt die Nähe der alten Kalligraphen zu suchen, und wird zur Assistentin dieser "gelehrten und vom Wort Gottes beseelten Greise". Sie lässt alle Schikanen der halb erleuchteten, halb verrückten Männer über sich ergehen – und saugt ihre Kunst mit allen Sinnen ein.

Als schließlich der alte Meister Selim sich das Leben nimmt und Rikkat sein kostbares Schreibwerkzeug vermacht, fasst die junge Frau die Entscheidung, ihr Leben ganz der Kalligraphie zu widmen.

Wie besessen beginnt sie ihre Arbeit. Über ihre absolute Hingabe an diese Kunst zerbricht die ohnehin unglückliche Ehe mit Ceri, der sich eine Partnerin wünscht, die sich mit ihrer Rolle als Ehefrau begnügt. Rikkat bleibt allein mit dem gemeinsamen Sohn, aber den von ihr eingeschlagenen Weg verlässt sie nicht.

Auch in der Zeit, in der die alte religiöse Kunst öffentlich immer mehr an Ansehen verliert, bleibt sie der Kalligraphie treu. Sie erlebt die Abschaffung der arabischen Schrift durch Atatürk und den Niedergang der Medrese, der alten islamischen Hochschule, in der die Kalligraphie viele Jahrhunderte zuhause war. Doch Rikkat bleibt unbeirrt. Sie wird von einer Schülerin zur Lehrerin und beginnt an der Akademie der Künste in Istanbul zu unterrichten.

Fortleben einer abgeschafften Schrift

Das Arbeiten an den heiligen Texten wird für sie immer stärker zu einem Akt der Selbstverortung – nicht nur in Bezug auf den intensiven, stummen Dialog mit Gott, dem sich die Kalligraphen verschrieben haben, sondern auch, was die Verteidigung privater Freiräume begrifft, die immer wieder in Bedrängnis geraten.

Besonders ihr zweiter Mann Mehmet fühlt sich durch die Arbeit seiner Frau provoziert und wird zunehmend übergriffig; auch diese Ehe zerbricht, während die Kalligraphie bleibt. Bis zum Ende.

"Die Nacht der Kalligraphen" ist eine Geschichte der subversiven Kraft des geschrieben Wortes und der absoluten Hingabe an ein Lebensziel. An ihrem Ende steht die augenzwinkernde Gewissheit, dass all die, die glauben, die Schrift sei leblos und unfähig zu widersprechen, sie maßlos unterschätzen.

Jan Valk

© Qantara.de 2007

Yasmine Ghata: Die Nacht der Kalligraphen. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Ammann, Zürich 2007, 154 S., 17,90 Euro.

Yasmine Ghata wurde 1975 in Frankreich geboren. Sie studierte Islamische Kunstgeschichte, arbeitet für eine Pariser Galerie und ist spezialisiert auf die Erstellung von Expertisen für islamische Kunst.