Verfechter der Vielfalt

Sie sind sprachgewaltige Dichter und streitbare Denker. Die Schriftsteller Yasar Kemal und Günter Grass trafen sich auf Einladung der Akademie der Künste in Berlin. Diskutiert wurde über das Verhältnis von Literatur und Politik. Ariana Mirza berichtet.

Bildmontage Grass Kemal; Foto: AP/ DW
"Diejenigen, die die Lieder eines Volkes schreiben, sind viel mächtiger, als diejenigen, die die Gesetze machen", so der türkische Schriftsteller Yasar Kemal bei seinem Treffen mit Günter Grass in der Berliner Akademie der Künste.

​​Wie viel Literatur vermag, das haben in den vergangenen Jahrzehnten nur wenige Schriftsteller so bildhaft vor Augen geführt wie Günter Grass und Yasar Kemal.

Ihre Romane machten Leser in aller Welt mit zuvor gänzlich unbekannten Gefilden und Verhältnissen vertraut. Wer sich in die Lektüre ihrer Bücher vertieft, begibt sich auf eine Reise, die sowohl territoriale Grenzen als auch unsichtbare Schranken zwischen gesellschaftlichen Schranken aufhebt.

Revolutionäre Gesellschaftskritik

Grass' Schlüsselroman "Die Blechtrommel" hat den Blick auf die deutsche Vergangenheit freigelegt und überdies den Schatz verlorener kaschubischer Sprache und Identität geborgen und literarisch verewigt. Ähnlich verhält es sich mit Yasar Kemals Meisterwerk "Memed, mein Falke". Von großer poetischer Schönheit birgt der Roman zugleich eine revolutionäre Gesellschaftskritik.

Dabei ist Yasar Kemals sprachliche Textur so fein gewebt und sinnlich, dass seine Leser den Duft, der den Thymianfeldern der anatolischen Cukorova-Ebene entströmt, gleichsam atmen können.

Kemals 1955 geschaffene Romanfigur Memed ist längst zur mythischen Gestalt geworden. An die 10.000 angebliche Grabstätten des fiktiven Rebellen zählt man heute in der Türkei. Viele Menschen glauben noch heute, dass Memed mehr war als nur eine Romanfigur.

Erfahrungen von kultureller Differenz

Nicht nur ihre erzählerische Kraft und bildhafte Sprache verbindet den deutschen und den türkischen Schriftsteller. Schon aufgrund ihrer Herkunft sind beide mit hybriden Strukturen, dem kunterbunt gemischten Zusammenleben und dem unversöhnlichen Hass zwischen verschiedenen Volksgruppen vertraut.

Yasar Kemal und Günter Grass; Foto: Stephan Schmidt
Günter Grass verwies darauf, wie sehr die deutsche Literatur durch Migrantenliteratur bereichert würde. "Doch zu viel dieses großen Potenzials für die Literatur und die Gesellschaft geht durch Ausgrenzung verloren", so Grass.

​​Der türkisch-kurdische Dichter und der deutsch-kaschubische Autor haben diese Erfahrungen von kultureller Differenz in die Literatur eingebracht – und die heutige Kulturlandschaft ihrer "halben" Heimatländer entscheidend geprägt.

Bei so vielen Gemeinsamkeiten verwundert es nicht, dass Günter Grass und Yasar Kemal befreundet sind. Nicht zuletzt verbindet sie, wie Grass es beim Treffen in Berlin salopp formulierte, "dass wir uns als Schöngeister in die Niederungen der Politik begeben".

Grass hielt auch die Laudatio, als Kemal 1997 den wichtigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt.

Ein Schwur ewiger Feindschaft wird gebrochen

Für den Sozialisten Kemal blieb sein gesellschaftliches Engagement in der Vergangenheit nicht ohne Folgen. Er saß für seine Überzeugungen mehrfach im Gefängnis. Zuletzt verbot ihm 1995 ein türkisches Gericht, für den Zeitraum von fünf Jahren über die Kurdenfrage zu schreiben.

"Diesem Staat werde ich nie verzeihen", erklärte Kemal zwei Jahre später, als er erfuhr, dass die Justiz den blinden linken Intellektuellen Esber Yagmurdereli erneut ins Gefängnis gesteckt hatten.

Seither sind viele Jahre ins Land gezogen, die Türkei hat sich dramatisch verändert, sowohl politisch als auch gesellschaftlich.

​​Dennoch überraschte es nicht nur die türkische Öffentlichkeit, dass Kemal Ende des vergangenen Jahres als erster Preisträger mit dem neu geschaffenen Kulturpreis des Staatspräsidenten ausgezeichnet wurde. Noch irritierender erschien es vielen Beobachtern, dass Kemal die Ehrung durch Präsident Abdullah Gül nicht ablehnte.

Das habe er im ersten Impuls vorgehabt, ließ Kemal später verlauten, aber nach einiger Überlegung – und wohl nicht zuletzt auch unter dem guten Zureden von Abdullah Güls Beratern – habe er sich dazu entschlossen, der Hoffnung einen Pfad zu ebnen: "Der Preis soll ein Zeichen sein, dass der Weg zum sozialen Frieden geöffnet wird."

Abschied von monokulturellen Vorstellungen

Die Verleihung des türkischen Kulturpreises an Yasar Kemal wurde in Berlin nicht angesprochen. Als sei es ein Tabu, erwähnten weder der Moderator Osman Okkan vom "KulturForum Türkei Deutschland" die Auszeichnung noch der Schriftstellerkollege Günter Grass. Stattdessen unterhielt man sich darüber, wie ein sozialer Friede in beiden Ländern aussehen sollte.

Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland sei es an der Zeit, sich von einer "monochromen Vorstellung von Gesellschaft" zu verabschieden, forderten die Schriftsteller. Weder hier noch dort habe es je eine kulturelle oder sprachliche Homogenität gegeben. Diese Vielfalt solle nicht länger geleugnet, sondern als Reichtum erkannt werden, so waren sich die beiden Schriftsteller einig.

Günter Grass verwies darauf, wie sehr die deutsche Literatur bereits durch Werke von Migranten und deren Nachfahren bereichert würde. "Doch zu viel dieses großen Potenzials für die Literatur und die Gesellschaft geht durch Ausgrenzung verloren", so Grass.

Für die Anerkennung kultureller Minderheiten

Yasar Kemal erklärte, es sei eine Überlebensfrage für die Türkei, ihre verschiedenen Bevölkerungsgruppen anzuerkennen. "Das gilt sowohl für die Türken als auch für die Kurden."

Yasar Kemal und Günter Grass; Foto: Stephan Schmidt
"Wir werden den Mächtigen ein Dorn im Auge bleiben", so Yasar Kemal. Auch Grass meinte, der Schriftsteller müsse seine Stimme in der Gesellschaft erheben.

​​Den Schaden, den die kurdische Sprache durch das langjährige Verbot in der Türkei erlitten habe, so Kemal, könne er als Schriftsteller besonders gut ermessen. "Deshalb gibt es keine bedeutende kurdischsprachige Literatur in der Türkei."

Er selbst habe sich an der reichen turkmenischen Sprachkultur orientieren müssen, um seine Werke zu schaffen. Gesellschaft und Literatur, so der Tenor der beiden Romanciers, seien eng verknüpft. "Literatur hat immer mit gesellschaftlichen Verwerfungen und Politik zu tun", sagte Grass.

Die Macht der Dichter und Denker

Die beiden Grandseigneurs der zeitgenössischen Literatur verbreiteten in Berlin jugendlich kämpferischen Elan – und wurden dafür sowohl im voll besetzten Saal als auch bei der anschließenden Signierstunde von ihren Lesern gefeiert.

Der 81jährige Grass übte vor allem Kritik an der Bundesregierung und geißelte den türkischen Umgang mit den Massakern an den Armeniern, den der Nobelpreisträger als "Völkermord" bezeichnete.

Kemal erinnerte zum wiederholten Mal daran, "dass das Gefängnis die Schule der türkischen Schriftsteller" sei. "Wir werden immer ein Dorn im Auge der Mächtigen sein", sagte der 85jährige.

Und in Anlehnung an sein großes Vorbild Cevat Sakir, den "Fischer von Halikarnassos", setzte er hinzu: "Diejenigen, die die Lieder eines Volkes schreiben sind viel mächtiger, als diejenigen, die die Gesetze machen."

Ariana Mirza

© Qantara.de 2009

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