Kopftuch und Nanotechnik

Aufbruchstimmung im Iran: Unter dem Druck der Sanktionen hat sich das Land in einen Hort des Erfindergeistes verwandelt. Doch der Zwiespalt zwischen Religion und Hightech ist permanent spürbar. Aus Teheran berichtet Patrick Illinger.

Von Patrick Illinger

"Das ist das MIT Irans", raunt eine Studentin ehrfürchtig, als sich eine Labortür im Obergeschoss der Teheraner Sharif-Universität öffnet. Der stolze Vergleich mit dem berühmten Massachusetts Institute of Technology wirkt beim Betreten des Raums zunächst bizarr. Das Labor sieht aus wie eine Bastelstube. Auf einem Tisch steht eine längliche Kiste, in die ein Assistent mit einem Gartenschlauch Wasser füllt. In dem Geblubber leuchtet ein grüner Laserstrahl.

Doch es ist wie so vieles im Iran: Der äußere Schein trügt. Mit unbestreitbarer Kompetenz erklären die anwesenden Physiker, wie die Dispersion des Laserlichts unter Wasser von Sauerstoff- und Salzgehalt abhängt. Und ein Schaubild an der Wand zeigt, dass der Laser im Wasserbecken keine Spielerei ist: Es ist der erste Schritt zu einem vernetzten Kommunikationssystem für U-Boote. Ein Unterwasser-Internet.

In anderen Laboren der Universität arbeiten Nanotechniker, Quantenphysiker, Biotechnologen und Robotiker. Sharif, das ist Irans führende Adresse für Natur- und Ingenieurwissenschaftler. Von den etwa 700.000 Schülern, die jedes Jahr einen landesweiten "Concours" absolvieren, eine mehrstündige Eignungsprüfung, werden die hundert begabtesten an die Elite-Uni zugelassen. Mit besonderem Stolz blickt die Universität im Herzen Teherans auf ihre ehemalige Studentin Maryam Mirzakhani. Die heute als Professorin im amerikanischen Stanford forschende Mathematikerin hat 2014 die höchste Auszeichnung ihres Fachs erhalten, die mit einer Million Dollar dotierte Fields-Medaille.

Leidenschaft für Technik und Naturwissenschaft ist auch an den anderen Hochschulen der Hauptstadt spürbar, der Iran University und der Universität von Teheran. Weder die Rumpelkammerhaftigkeit der Labore noch der Smog über der Millionenstadt und der Dauerinfarkt in den völlig überfüllten Straßen sollten über die Aufbruchstimmung des Landes hinwegtäuschen. Das Ziel der iranischen Regierung ist, das Land vom Öl-Exporteur in eine "Wissens-Gesellschaft" zu überführen.

Innovativer Mikrokosmos

Iran, dessen Bild im Westen wahlweise zwischen Rosenwasserromantik und Nuklearaggression schwankt, hat sich unter dem Druck der Sanktionen der vergangenen Jahre in einen innovativen Mikrokosmos entwickelt. Neun von zehn Produkten sind hausgemacht, wovon man sich nicht nur in den vielen Süßigkeitenläden überzeugen kann. Die Selfmadekunst reicht weit in die Hochtechnologie hinein: Es gibt eigene soziale Netze, Dutzende Apps, eine eigene Pharmaindustrie. Bezahlt wird mit einem Chipkartensystem namens ezpay. "Die Sanktionen hatten den Vorteil, dass wir uns um Patente nicht mehr scheren müssen", sagt die Chefin einer Biotechfirma augenzwinkernd.

Uranumwandlungsanlage bei Isfahan, Iran; Foto: Getty Images
Ökonomische Aufbruchstimmung: Nach dem Atomabkommen mit dem Westen und der Lockerung der Fesseln, rechnet Irans Regierung mit sechs Prozent jährlichem Wirtschaftswachstum in den kommenden 20 Jahren.

Nun, nach dem Atomabkommen mit dem Westen und der Lockerung der Fesseln, rechnet Irans Regierung mit sechs Prozent jährlichem Wirtschaftswachstum in den kommenden 20 Jahren. Einwohner gibt es so viele wie in Deutschland, und sie sind jung. Viele Intellektuelle sind zwar ausgewandert. Fünf Millionen Menschen mit iranischen Wurzeln leben im Ausland, 120.000 von ihnen in Deutschland.

Doch die Beziehung zum Herkunftsland ist eng. Man trifft an den Universitäten reihenweise Forscher, die einige Zeit in Deutschland verbracht haben. Ein Physiker, der mit supraleitenden Magnetfeldsensoren Hirnwellen messen will, hat einst im Forschungszentrum Jülich mit dem Nobelpreisträger Peter Grünberg gearbeitet.

Der Forscherdrang sowie das Potenzial einer jungen, gut ausgebildeten Studentengeneration ist für den Westen interessant. Nachdem Brexit und Trump vielen Iranern den Weg in die angelsächsische Welt erschwert haben, sehen deutsche und europäische Institute und Universitäten die Chance für verstärkte Zusammenarbeit. Mehrere Delegationen besuchten jüngst Iran, so auch der EU-Forschungskommissar Carlos Moedas.

Vor Kurzem sondierte die in der Wissenschaftsförderung aktive Robert-Bosch-Stiftung die Situation. Deren Chef Joachim Rogall fand vor der iranischen Handelskammer deutliche Worte: Die politische Entwicklung im angelsächsischen Raum sei zwar bedauerlich, biete für Europa und Deutschland aber beträchtliche Chancen. Dies gesagt, bedrängten Dutzende Vertreter iranischer Start-ups den Gast aus Deutschland mit Fragen und Förderanträgen.

Ausbruch aus der Isolation

"Viele Iraner wünschen sich sehnlich, die Isolation zu überwinden und wieder als geachtetes Mitglied der Gemeinschaft der Nationen zu gelten", schreibt die Iran-Kennerin Charlotte Wiedemann in dem soeben bei dtv erschienenen und sehr lesenswerten Buch "Der neue Iran".

Buchcover "Der neue Iran" von Charlotte Wiedemann; Quelle: dtv
Der neue Iran: Das Land ist "pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös als der Iran der ersten Revolutionsjahre", schreibt die Journalistin und Buchautorin Charlotte Wiedemann.

Das ist zweifellos einer der Gründe, warum Irans Forscher und Ingenieure den Wettbewerb suchen, ob bei Solarautorennen, wo die "Persische Gazelle" ganz vorne mitfährt, oder beim Roboterfußball, wo iranische Kicker schon mal deutsche Roboter vom Platz fegen. Mehrere Millionen Euro hat die Regierung in ein Brain-Mapping-Labor investiert. Dort wird Kernspin-Tomografie auf westlichem Niveau betrieben.

Das Land ist "pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös als der Iran der ersten Revolutionsjahre", schreibt die Buchautorin Wiedemann. Dennoch ist der Zwiespalt zwischen Religion und Hightech permanent spürbar. Das Abbild Ayatollah Khomeinis hängt in jedem Nanotechnologie-Labor. Die Tagung bei der Handelskammer beginnt mit einer Kurzpredigt vom Band. Auch gelten Journalisten nach wie vor als zutiefst verdächtig. Wer in dieser Funktion das Land bereist, bekommt "Übersetzer" zugeteilt, die keine Minute von der Seite weichen.

Verwirrend ist auch die Regierungslandschaft. Für die Wissenschaft gibt es einen mächtigen Vizepräsidenten, aber auch ein Wissenschaftsministerium. Hinzu kommen eine National Science Foundation, ein Fonds für Innovation und Prosperity, der Technik-Start-ups mit insgesamt einer Milliarde Euro unterstützt. "Der Teheraner Machtapparat ist vielstimmig, oft kakofon, es tummeln sich darin Geistliche, Uniformierte und Bürokraten in zivil", berichtet Charlotte Wiedemann.

Hybridsystem mit theokratischen und demokratischen Elementen

Es ist ein Hybridsystem mit theokratischen und demokratischen Elementen. Darin wimmelt es von halbstaatlichen und "gemeinnützigen" Akteuren, deren Rolle von außen undurchschaubar bleibt. Im Parlament sitzen zwar so wenige Kleriker und so viele Frauen wie nie zuvor. Dennoch wurden mehrere Kandidaten für das Amt des Wissenschaftsministers abgelehnt, so auch der angesehene Präsident der Universität von Teheran. Man wollte den gemäßigten Präsidenten Rohani in seine Schranken weisen.

Der Alltag in Teheran hat hingegen nur wenig mit der äußerlich diktatorisch und archaisch wirkenden Regierungsstruktur zu tun. Satellitenschüsseln, soziale Medien, Alkohol - all das ist prinzipiell verboten, doch im privaten Raum allgegenwärtig. In den reichen Vierteln röhrt schon mal ein Lamborghini durch die Straßen.

Den Hardlinern ist das Vorhandensein von Verboten wichtiger als deren Durchsetzung. Diese orientalische Variante des Gesicht-Wahrens ist auch, was die internationalen Verhandlungen über das Nuklearprogramm so schwer machte. Die von Universitäten strikt getrennten, hermetisch abgeschotteten Atomkomplexe sind ein Prestigeprojekt der Hardliner.

Iranische Wissenschaftler sehen es, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, durchaus skeptisch. Iran fördert mehr Öl und Gas, als es je verbrennen kann. Und die Wüsten des Landes, 4,5-mal so groß wie Deutschland, böten genug Platz für solarthermische Anlagen. Doch vom Westen will man sich eben nicht vorschreiben lassen, was zu tun oder zu lassen ist. So bleiben die Atomkomplexe politisch gewollt. Im universitären Alltag spielt die Kerntechnik keine Rolle.

Zwischen Schein und Wirklichkeit

Der vielleicht erstaunlichste Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit ist die Stellung der Frauen. Eine Kopfbedeckung ist Pflicht, und viele tragen den traditionellen Tschador. "Doch selbstbewusste, berufstätige Frauen prägen die öffentliche Atmosphäre wie in kaum einem anderen Land der Region", schreibt Charlotte Wiedemann. Tatsächlich sind mehr als sechzig Prozent der Studierenden weiblich.

[embed:render:embedded:node:24662]An der Ingenieurfakultät der Sharif-Universität sind es immerhin ein Drittel, mehr als deutsche TUs vorweisen können. Besonders eindrucksvoll bestätigt sich die Emanzipation der Frauen bei einer Sitzung der iranischen Risikokapitalgeber-Vereinigung: Mehr als die Hälfte der Anwesenden sind Frauen, verhüllt mit Kopftuch oder Tschador. Die Vorsitzende Mehrnaz Heidari spricht in makellosem Englisch über Anschubfinanzierung und Börsengänge. Haleh Hamedifar, Vorstandsvorsitzende der Biotech-Firma Cinnagen, berichtet, wie sie einst das Startkapital für die Entwicklung eines Brustkrebs-Antikörpers zusammenbekam. Heute hat sie 1.900 Mitarbeiter.

Die Umsetzung von Wissenschaft und Technik in verwertbare Innovationen ist im Sinne der Regierung. Einer der mächtigen Vizestaatspräsidenten ist Surena Sattari, zuständig für Technologie und Wissenschaft. Der Sohn eines Luftwaffenkommandanten beschwor 2015 im US-Journal Science einen "Silicon-Valley-Geist": "Unsere Haltung hat sich im Zuge der Sanktionen geändert. Wir glauben jetzt an Investitionen in Wissenschaft und Technik. Innovationen sind essenziell, um eine wissensbasierte Wirtschaft zu generieren."

Den Vereinigten Staaten bot er eine ernsthafte wissenschaftliche Beziehung an. Doch dann kamen Trump und dessen Einreiseverbote. Nun sehen die iranischen Wissenschaftler ihre Chancen in Ländern wie Kanada und Deutschland.

Professoren und Studenten tun sich allerdings noch schwer mit der Kontaktaufnahme. Die Visapolitik Deutschlands wird als restriktiv wahrgenommen und die Wissenschaftslandschaft als schwer durchschaubar: "DAAD, Max-Planck, DFG...", fragt ein Ingenieur, "wer ist denn da für was zuständig?" Und ein Student meint, in Deutschland sei es wohl unüblich, einen Professor direkt anzuschreiben. Von amerikanischen Forschern bekomme man stets und prompt eine Antwort.

"Auf dem Papier ist die Zusammenarbeit mit deutschen Organisationen fortschrittlicher als in der Praxis", klagt Mahmoud Nili Ahmadabadi, der Präsident der Universität von Teheran, die vor dem Zweiten Weltkrieg von deutschen Wissenschaftlern mitbegründet wurde. Er regt ein Gipfeltreffen an, auf Augenhöhe, "um eine konkrete Zusammenarbeit voranzubringen".

Von vagen Absichtserklärungen und Delegationsbesuchen hat auch der Mikroelektroniker Mahdi Pourfath genug: "Es gab nun schon so viele Gespräche. Wann folgen endlich Taten?"

Patrick Illinger

© Süddeutsche Zeitung 2017