Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten

Im Libyen der Post-Gaddafi-Ära sind zweifelsohne noch viele Schwierigkeiten zu überwinden. Doch gibt es inzwischen auch zahlreiche Anzeichen dafür, dass ein rascher Wiederaufbau nach dem militärischen Konflikt gelingen kann, meint der britische Politikwissenschaftler Stefan Wolff in seiner Analyse.

Während man sich in Libyen immer mehr den Fragen des Wiederaufbaus zuwendet, den die neue Regierung und ihre Unterstützer in der internationalen Gemeinschaft zu bewältigen haben, werden bereits unterschiedlichste Szenarien entworfen, in welche Richtung sich das Land zukünftig bewegen wird.

Roland Paris vom Canadian International Council etwa sieht Anlass zu Optimismus, während Diana West im Washington Examiner davor warnt, dass das Unwissen der USA über die libyschen Rebellen tödliche Folgen haben könne. West malt damit ein düsteres, dennoch nicht ganz unrealistisches Bild eines anti-westlichen Regimes, das sich in Libyen formiert.

Paris dagegen räumt zwar ein, dass der Weg Libyens zur Demokratie einen steinigen Verlauf nehmen werde, doch gebe es entscheidende Vorteile gegenüber anderen Ländern in vergleichbaren Situationen.

Aus meiner Sicht sind in Libyen tatsächlich noch viele Schwierigkeiten zu überwinden, darunter einige, die von der künftigen Übergangsregierung und der internationalen Gemeinschaft kaum zu kontrollieren sind. Und selbst dort, wo erfahrene lokale Führer und effektive Diplomaten den Lauf der Dinge beeinflussen können, sind gewiss noch große Herausforderungen zu bewältigen.

Rebellen in Tripolis; Foto: dapd
Nach dem militärischen Sieg über das Gaddafi-Regime beginnt für den Übergangsrat eine Phase der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung, die allerdings noch sehr viel Zeit erfordern wird.

​​Die erste dieser Herausforderungen besteht in der Etablierung von Institutionen, die einen wirkungsvollen politischen Prozess in Libyen in Gang bringen, in dem der Nationale Übergangsrat (NTC) alle entscheidenden Verwaltungsfunktionen übernimmt. Dies verlangt vom NTC, seine Kontrolle auf ganz Libyen auszudehnen und den letzten Rest an Widerstand seitens des alten Regimes zu brechen.

Da dies durchaus noch einige Zeit in Anspruch nehmen kann, arbeitet der NTC bereits mit ersten Erfolgen daran, die Sicherheit und das Rechtssystem vor allem in den wichtigen städtischen Gebieten herzustellen, wo die Mehrheit der Menschen lebt und die heftigsten Gefechte erlebt haben.

Wenn der Übergangsrat in Kürze die Regierungsgeschäfte landesweit übernehmen wird, wird dieser versuchen, die unterschiedlichen politischen Strömungen zu einem möglichst weitgehenden Konsens zu bewegen und sich auch weiterhin der breiten Unterstützung aus der Region – genau wie aus der internationalen Staatengemeinschaft – zu sichern.

Insbesondere wird es der neuen Führung zunächst darum gehen, auf die Freigabe der im Ausland eingefrorenen Gelder des alten Regimes zu pochen und die finanziellen Hilfen aus dem Ausland für humanitäre Zwecke ebenso zu nutzen wie für längerfristige Aufbauprojekte. Doch allein diese kurze Liste grundlegender Aufgaben und Ziele birgt zahllose Ungewissheiten.

Gefahr eines langwierigen Konflikts

Es scheint sehr wahrscheinlich, dass die noch bestehenden Überreste des alten Regimes schon bald endgültig geschlagen sein werden und mit der weiteren Hilfe der NATO werden die letzten Gaddafi-Getreuen schon bald weder über ausreichend Widerstandskraft noch Ressourcen verfügen.

Werden aber der Diktator und sein innerer Führungszirkel nicht bald gefasst und die finanziellen wie materiellen Versorgungswege wirksam abgeschnitten, besteht die Gefahr, dass sich der Widerstand auf einem niedrigeren Niveau noch weiter hinzieht. So war es im Falle der Taliban, die sich von ihrer Niederlage im Jahr 2001 erholten und auch die Sunniten im Irak erstarkten lange nach der Gefangennahme Saddam Husseins und seiner Exekution noch einmal.

Das Zögern der Afrikanischen Union, und hier insbesondere Südafrikas, den Übergangsrat anzuerkennen, solange die Kämpfe nicht beendet sind, speist sich nicht nur aus Vorbehalten gegenüber der von der NATO-unterstützen Ablösung Gaddafis, sondern rührt auch daher, dass dieser noch immer über ein Netzwerk an Kontakten und Unterstützern auf dem ganzen Kontinent verfügt. Zwar ist die Anerkennung seitens der Afrikanischen Union wohl doch nur eine Frage der Zeit, doch spiegelt die Verzögerung die unterschiedlichen Loyalitäten und künftiger Ungewissheiten wider.

Ölförderung in Libyen; Foto: AP
"Libyen wird, angesichts reicher Öl- und Gasvorkommen, weniger abhängig von internationalen Hilfen sein als viele andere Länder, die einen ähnlichen Übergang zu bewältigen haben", meint Wolff.

​​Auf dem Balkan dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis ein gewisses Maß an Stabilität erreicht werden konnte, wozu der Abgang der Verantwortlichen aus Kriegszeiten auf allen Seiten entscheidend beitrug. Und doch brachen alte Wunden umgehend wieder auf, als das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte, und diese von der internationalen Gemeinschaft in Teilen anerkannt wurde.

Auch die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in den wichtigsten Bevölkerungszentren könnte zu einer besonderen Herausforderung werden. Noch waren weder Plünderungen noch Vergeltungsmaßnahmen zu beobachten, wie sie während oder kurz nach gewaltsamen Regierungswechseln so häufig geschehen. Wenn sich die humanitäre Lage jedoch weiter verschärfen sollte und die wichtigsten öffentlichen Dienste nicht schnell wieder aufgenommen werden, könnte sich auch die Sicherheitslage wieder verschlimmern sowie Plünderungen und Repressalien zunehmen.

Ob solch ein Teufelskreis tatsächlich zu befürchten ist, hängt nicht nur davon ab, wie effektiv der NTC seine Regierungsfunktionen ausführen wird, sondern auch davon, ob es den verschiedenen politischen Strömungen gelingt, ihre Unterstützer im Zaum zu halten.

Die Klärung der Machtverhältnisse innerhalb des NTC und des Verhältnisses zwischen dem NTC und der libyschen Bevölkerung stellt eine weitere Herausforderung dar. Rivalisierende Gruppen und deren Anführer werden nun ihre Belohnungen und Posten für ihre Unterstützung der Revolution einfordern. Ihren Anhängern müssen sie letztlich vermitteln können, dass sich deren Opfer gelohnt haben.

Gleichzeitig ist die Botschaft der Versöhnung, die vom NTC an die Anhänger des alten Regimes ausgesandt wurde, ein richtiges und wichtiges Signal. Und doch wird es schwierig sein, sie in konkrete Politik umzusetzen, solange die Kämpfe andauern, immer weitere vom alten Regime begangene Grausamkeiten ans Licht der Öffentlichkeit gelangen und die Früchte des Friedens nur ein Versprechen für die Zukunft bleiben.

Mit anderen Worten: Die Anführer wie ihre Gefolgsleute müssen auch weiterhin nicht nur das Gefühl haben, dass sie ohne Gaddafi besser dran sind, sondern müssen vielmehr auch weiterhin darauf verzichten, ihre Meinungsverschiedenheiten gewaltsam auszutragen und stattdessen politische Lösungen zu suchen – auch wenn dies bedeutet, unangenehme Zugeständnisse zu machen und Kompromisse schließen zu müssen.

Perspektiven für die Ära nach Gaddafi

Der vom NTC veröffentlichte Entwurf einer Verfassungscharta zeigt, wie weit die Planungen für die Zeit nach Gaddafi in den vergangenen Monaten bereits gediehen sind. Dabei werden auch die Anstrengungen deutlich, die unternommen wurden, um tolerante Institutionen aufzubauen und den Weg zu demokratischen Wahlen zu ebnen.

Chef des Übergangsrates, Mustafa Abdel Jalil; Foto: AP
Anlass zum Optimismus: "Der vom Übergangsrat veröffentlichte Entwurf einer Verfassungscharta zeigt, wie weit die Planungen für die Zeit nach Gaddafi in den vergangenen Monaten bereits gediehen sind. Dabei werden auch die Anstrengungen deutlich, die unternommen wurden, um tolerante Institutionen aufzubauen und den Weg zu demokratischen Wahlen zu ebnen", schreibt Wolff.

​​Was jedoch Anlass zur Sorge bietet, ist, dass der Islam als Staatsreligion und die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung festgeschrieben werden sollen. Wahlen und die weitere Diskussion über den Entwurf einer dauerhaften Verfassung wird der Bevölkerung schon bald Gelegenheit geben, ihre eigenen Vorstellungen für den Aufbau des Landes miteinzubringen – auch wenn diese sehr von den Ideen abweichen könnten, die sich die westlichen Unterstützer der Revolution und der NATO erhofft hatten.

Das neue Libyen wird sehr wahrscheinlich ein besserer Ort sein als zu Zeiten Gaddafis Herrschaft, doch gilt dies auch für den Irak nach dem Sturz Saddam Husseins und für das heutige Aghanistan im Vergleich zu dem Land, das die Taliban beherrschten. Beide Staaten sind bis heute weder zu Modellen der Stabilität noch zu leuchtenden Beispielen für funktionierende Demokratien geworden.

Die internationale Unterstützung für den Sturz Gaddafis hat seit dem Beginn des Aufstandes im Februar 2011 beträchtlich zugenommen. Der Übergangsrat wird inzwischen von fast 60 Staaten als einzige rechtmäßige Vertretung des Landes anerkannt. Doch genauso wie das tatsächliche Ausmaß des politischen Konsenses innerhalb des Übergangsrates unklar bleibt, verhält es sich auch mit der internationalen Agenda für den Wiederaufbau nach dem Aufstand.

Es wird wohl letztlich eine von Staaten aus der Region gestützte UN-Mission geben. Und Libyen wird, angesichts reicher Öl- und Gasvorkommen, weniger abhängig von internationalen Hilfen sein als viele andere Länder, die einen ähnlichen Übergang zu bewältigen haben. Absehbar ist gleichermaßen, dass die Vorstellungen für ein zukünftiges Libyen zwischen den USA, der EU, der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga, Russland und China sehr unterschiedlich ausfallen werden, also bei all jenen Staaten, die, wenn auch nicht alle im selben Maße, das Mandat für eine künftige UN-Mission in Libyen formulieren werden.

Die Tatsache, dass die EU über die militärische Unterstützung durch die NATO tief zerstritten war, hinterlässt ernste Fragen hinsichtlich der strategischen Rolle des Westens beim Wiederaufbau Libyens.

Doch gibt es nach wie vor viele Gründe, optimistisch auf den Wiederaufbau Libyens zu blicken. Um was für einen Staat es sich beim neuen Libyen letzten Endes aber handeln wird, bleibt abzuwarten.

Stefan Wolff

© Stefan Wolff 2011

Stefan Wolff ist Professor für Internationale Sicherheit an der Universität von Birmingham. Mit seiner Erfahrung als Politikwissenschaftler hat er sich auf das Management aktueller Sicherheitsfragen spezialisiert, insbesondere im Bereich der Konfliktprävention. Seine jüngste Monographie trägt den Titel "Ethnic Conflict: Causes – Consequences – Responses".

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de