Ein neues Jahrhundert für den Nahen Osten

Immer wieder fragen sich die USA, die Europäische Union und westliche Institutionen wie die Weltbank, warum sich der Nahe Osten nicht selbst regieren kann. Vieles hängt mit dem Scheitern der westlichen Nahostpolitik zusammen, meint Jeffrey D. Sachs in seinem Essay.

Von Jeffrey D. Sachs

Immerhin war das mit Abstand größte Hindernis für gute Regierungsführung in der Region der Mangel an Selbst-Regierung: Durch wiederholte US-amerikanische und europäische Interventionen, die bis zum Ersten Weltkrieg und mancherorts noch früher zurückreichen, wurden die politischen Institutionen dort gelähmt.

Hundert Jahre sind genug. Das Jahr 2016 sollte den Beginn eines neuen Jahrhunderts selbstbestimmter Nahostpolitik einläuten, die sich dringend auf die Herausforderungen der Nachhaltigen Entwicklung konzentrieren muss.

Das Schicksal des Nahen Ostens der letzten hundert Jahre wurde im November 1914 besiegelt, als sich das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg auf der Verliererseite wiederfand. Dies führte zu seiner Auflösung, und die Siegermächte Großbritannien und Frankreich übernahmen die hegemoniale Kontrolle über seine Bruchstücke. Großbritannien, das bereits seit 1882 über Ägypten herrschte, hatte seitdem auch über den Irak, Jordanien, Israel und Palästina das Sagen, während Frankreich zusätzlich zu seinen Kolonien in Nordafrika auch noch die Kontrolle über den Libanon und Syrien übernahm.

Westlicher Interventionismus

Um die britische und französische Macht über Ölquellen, Häfen, Schifffahrtswege und die Außenpolitik der lokalen Regimes zu sichern, wurden formale Mandate der Liga der Nationen und andere Instrumente hegemonialer Kontrolle eingesetzt. Dort, wo sich heute Saudi Arabien befindet, unterstützte Großbritannien den wahhabitischen Fundamentalismus unter Ibn Saud – gegen den arabischen Nationalismus des haschemitischen Königreichs über den Hejaz.

Jeffrey D. Sachs (photo: private, source: Twitter)
Jeffrey D. Sachs, professor of Sustainable Development, professor of Health Policy and Management and director of the Earth Institute at Columbia University, is also special advisor to the United Nations Secretary-General on the Millennium Development Goals

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Tradition der Interventionen von den USA übernommen. Einem von der CIA unterstützten Militärputsch 1949 in Syrien folgte 1953 eine weitere CIA-Operation zum Sturz von Mohammad Mossadegh im Iran (um dem Westen die Kontrolle über das Öl des Landes zu sichern).

Das gleiche Muster setzt sich bis zum heutigen Tag fort: der Sturz des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011, die Absetzung des Ägypters Mohamed Mursi 2013, und der andauernde Krieg gegen Baschar al-Assad in Syrien. Seit fast sieben Jahrzehnten haben die USA und ihre Alliierten immer wieder interveniert (oder einheimische Gruppen unterstützt), um unbotmäßige Regierungen zu stürzen.

Waffen in falschen Händen

Auch hat der Westen die Region durch Waffenverkäufe im Wert von Hunderten Milliarden Dollar aufgerüstet. Überall dort haben die USA Militärbasen eingerichtet, und die immer wieder gescheiterten CIA-Operationen führten dazu, dass gewalttätige Feinde der USA und Europas enorme Waffenbestände in ihre Hände bekamen.

Fragt der Westen also die Araber und andere in der Region, warum sie sich nicht selbst regieren können, sollte er auf folgende Antwort vorbereitet sein: "Ein ganzes Jahrhundert lang habt ihr mit euren Interventionen die demokratischen Institutionen untergraben (indem ihr die Wahlergebnisse in Algerien, Palästina, Ägypten und anderswo ignoriert habt); immer wieder Kriege ausgelöst, die sich jetzt zum Dauerzustand entwickelt haben; für eure zynischen Ziele die gewalttätigsten Dschihadisten mit Waffen ausgerüstet; und ein Schlachtfeld verursacht, das sich heute von Bamako bis nach Kabul erstreckt."

Was muss nun also getan werden, um einen neuen Nahen Osten zu erschaffen? Fünf Prinzipien gilt es zu berücksichtigen:

Am wichtigsten ist zunächst, dass die USA ihre verdeckten CIA-Operationen zum Sturz oder zur Destabilisierung von Regierungen in aller Welt beenden. Die CIA wurde 1947 mit zwei Mandaten gegründet. Eins davon ist gerechtfertigt (die Sammlung von Informationen), und das andere verhängnisvoll (verdeckte Operationen zum Sturz von Regierungen, die den US-Interessen "feindlich" gegenüber stehen). Der US-Präsident kann und muss diese verdeckten Operationen durch eine direkte Verfügung beenden – und so das durch sie verursachte Erbe von Rückschlag und Chaos beseitigen, insbesondere im Nahen Osten.

Gescheiterte "Koalitionen der Willigen"

Zweitens müssen die manchmal gerechtfertigten außenpolitischen Ziele der USA in der Region im Rahmen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verfolgt werden. Der momentane Ansatz, "Koalitionen der Willigen" unter US-Führung zu gründen, ist nicht nur gescheitert, sondern hat auch dazu geführt, dass sogar ehrenhafte US-Ziele wie der Kampf gegen den "Islamischen Staat" durch geopolitische Rivalitäten blockiert werden.

Anhänger Mohamed Mursis demonstrieren für ihren Präsidenten in Kairo; Foto: Reuters
Jeffrey D. Sachs: "Viele gewählte islamistischen Regimes werden die Macht wieder verlieren, entweder beim nächsten Urnengang, auf der Straße oder gar durch Generäle im Land. Doch die wiederholten Versuche des Westens, alle islamistischen Regierungen zu stoppen, blockieren lediglich die demokratische Transition der Region, ohne dabei erfolgreich zu sein oder langfristigen Nutzen zu bringen."

Ließen die USA ihre außenpolitischen Initiativen durch eine Abstimmung im Sicherheitsrat überprüfen, könnten sie davon sehr profitieren. Als der Sicherheitsrat im Jahr 2003 den Krieg im Irak ablehnte, hätten die USA gut daran getan, von einer Invasion Abstand zu nehmen. Als sich Russland, ein permanentes Ratsmitglied mit Vetorecht, gegen den von den USA unterstützten Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad stellte, wären die USA gut beraten gewesen, mit ihren verdeckten Putschversuchen aufzuhören. Und nun könnte sich der gesamte Sicherheitsrat hinter einem weltweiten Plan zum Kampf gegen den "Islamischen Staat" vereinen (aber nicht hinter einem Plan der USA).

Gewählte islamistische Regimes werden scheitern

Drittens müssen die USA und Europa die Tatsache akzeptieren, dass die Demokratie im Nahen Osten viele Wahlsiege der Islamisten zur Folge haben wird. Viele der gewählten islamistischen Regimes werden scheitern, ebenso wie viele andere schlechte Regierungen. Sie werden die Macht wieder verlieren, entweder beim nächsten Urnengang, auf der Straße oder gar durch Generäle im Land. Aber die wiederholten Versuche Großbritanniens, Frankreichs und der USA, alle islamistischen Regierungen zu stoppen, blockieren lediglich die demokratische Transition in der Region, ohne dabei erfolgreich zu sein oder langfristigen Nutzen zu bringen.

Viertens müssen die regionalen Staatsführer vom Sahel über Nordafrika und den Nahen Osten bis nach Zentralasien erkennen, dass die wichtigste Herausforderung der islamischen Welt heute in der Qualität der Ausbildung liegt. In Bereichen wie Wissenschaft, Mathematik, technischer Innovation, Unternehmertum, Entwicklung von Kleinunternehmen und (damit) der Schaffung von Arbeitsplätzen hinkt die Region weit hinter anderen Ländern mittleren Einkommens hinterher. Ohne hochwertige Ausbildung gibt es kaum Aussichten auf wirtschaftlichen Wohlstand und politische Stabilität.

Ökologische Faktoren

Und schließlich muss die Region etwas gegen ihre außergewöhnliche Verletzlichkeit gegenüber Umweltschäden und ihre übermäßige Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen tun, insbesondere angesichts des weltweiten Übergangs zu kohlenstoffarmen Energiequellen. Die Region mit muslimischer Mehrheit von Westafrika bis Zentralasien ist das weltweit größte und meistbevölkerte Trockengebiet, ein 8.000 Kilometer langer Streifen mit Wasserproblemen, Wüstenbildung, steigenden Temperaturen und unsicherer Nahrungsmittelversorgung.

Dies sind die wahren Probleme des Nahen Ostens. Glaubensstreitigkeiten, die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten oder Assads politische Zukunft sind langfristig für die Region deutlich weniger wichtig als der Mangel an hochwertiger Ausbildung, an Fähigkeiten am Arbeitsplatz, an fortgeschrittenen Technologien und nachhaltiger Entwicklung.

Die vielen mutigen und fortschrittlichen Denker in der islamischen Welt sollten dazu beitragen, ihren Gesellschaften diese Wirklichkeit bewusst zu machen. Und wohlmeinende Menschen aus aller Welt müssen ihnen dabei helfen, indem sie im Rahmen einer friedlichen Zusammenarbeit den Manipulationen und imperialen Kriegen ein Ende bereiten.

Jeffrey D. Sachs

© Project Syndicate 2015

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff