Der Islam als die Antithese des Westens

Der Orient war für den Okzident immer das Spiegelbild seiner selbst. Anhand einiger Literaturbeispiele zeigt Andreas Pflitsch, wie sich dieses Bild vom 'Anderen' idealtypisch ins Gegenteil verkehrt hat.

Gemälde von Jean-Léon Gérome (1824 -1904)
Gemälde von Jean-Léon Gérome (1824 -1904)

​​Unsere Sicht auf den Orient ähnelte schon immer einem Blick in den Spiegel, in dem sich der Westen nicht zuletzt selbst gesehen hat, die eigenen Obsessionen, uneingestandenen Sehnsüchte und unterschwelligen Ängste.

War etwa dem prüden viktorianischen England ein schwül-lasziver, von Harem, türkischem Bad und anderen Männerphantasien geprägter Orient ein willkommenes Gegenbild, so wurde ein Jahrhundert später das spirituell-mystische und drogenrauschversprechende Indien zum Refugium der vor den Verknöcherungen der Nachkriegs-Ära flüchtenden Hippies.

Spiegelverkehrte Bilder

Im Laufe der Zeit haben sich die Positionen spiegelbildlich verkehrt. Bildeten früher Orientphantasien eine Gegenwelt zur verklemmten Moral europäischer Bürgerlichkeit, so sind es heute die in traditionellen Gesellschaften lebenden Muslime, deren Phantasie durch den vermeintlich freizügigen Westen angeregt wird.

Der im Mittelalter wurzelnden europäischen Vorstellung vom triebhaften Orientalen und dem tugendhaften Christenmenschen entspricht nun das Bild des verstockten, lustfeindlichen Islam, dem der Sündenpfuhl der zügellos erotisierten westlichen Pop-Kultur gegenübersteht.

Nicht wenige heutige Muslime verallgemeinern diesen Aspekt westlicher Lebensart – ganz gleich ob ablehnend oder heimlich bewundernd –, so wie man im Westen zuvor Bauchtanz und Vielweiberei verallgemeinerte und zum Traumbild oder zum Inbegriff der Sünde erhob.

Man hat die Plätze getauscht. Konstant blieb hingegen die Neigung, in idealtypischen Gegensätzen zu denken.

Grenzenlose Dekadenz in Teheran

Christian Kracht etwa lässt in seinem 2001 erschienenen Roman 1979 seine Protagonisten in elitärer Langeweile und grenzenloser Dekadenz am Vorabend der Islamischen Revolution in einer Teheraner Villa Drogenpartys feiern. Später, in einem Café, wettert dessen Besitzer gegen den alles umfassenden "Zugriff Amerikas" und prophezeit:

"Es gibt nur eine Sache, die dagegen stehen kann, nur eine ist stark genug: Der Islam. Alles andere wird scheitern." Und mit apokalyptischer Drohgebärde fährt er fort: "Alle anderen werden in einem schaumigen Meer aus Corn Flakes und Pepsi-Cola und aufgesetzter Höflichkeit ertrinken."

Sextourismus in Thailand

Michel Houellebecq beschreibt in seinem ebenfalls 2001 erschienenen Roman Plateforme, wie ein französisches Paar in den Sextourismus in Thailand einsteigt, um ihn auf die Spitze zu treiben. Es sind schließlich islamistische Terroristen – sehr knapp und wenig originell als "drei Männer mit Turban, die Maschinenpistolen in den Händen hielten" beschrieben – die durch das "mörderischste Attentat, das es je in Asien gegeben hatte" das Projekt beenden und den Erzähler hasserfüllt zurücklassen.

"Man kann allein dadurch am Leben bleiben", stellt er fest, "dass man von einem Gefühl der Rache erfüllt ist; viele Menschen haben so gelebt. Der Islam hatte mein Leben zerstört, und der Islam war sicherlich etwas, was ich hassen konnte. In den folgenden Tagen bemühte ich mich, die Muslime zu hassen. Es gelang mir ganz gut."

Seine Menschenverachtung steigert sich bald ins Monströse: "Jedes Mal, wenn ich erfuhr, dass ein palästinensischer Terrorist, ein palästinensisches Kind oder eine schwangere Palästinenserin im Gazastreifen erschossen worden war, durchzuckte mich ein Schauder der Begeisterung bei dem Gedanken, dass es einen Muslim weniger gab. Ja, man konnte auf diese Weise leben."

Die Auswüchse der Moderne

Diese Pervertierung vertrauter europäischer Ängste funktioniert durch die offensichtliche Überspitzung als Subversion. Hier wird mit dem Gestus der Provokation das zur Entmenschlichung führende zynische Denken vorgeführt.

Houellebecqs Kritik am Islam entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Kritik am Westen. Der Roman ist eine Anklage gegen die grandios scheiternde Moderne, die ihre Glücksversprechen nicht einhält. Nein, so suggeriert dieser Roman das Gegenteil dessen, was er explizit sagt: man kann auf diese Weise eben nicht leben. Der Autor erweist sich wider Erwarten als Moralist.

Beiden, Houellebecq wie Kracht, dient ein auf eine Karikatur reduzierter Islam als Folie für ihre Kritik an den Auswüchsen der westlichen Moderne. Wenn sie vom Islam reden, geht es ihnen nicht in erster Linie um den Islam. Dargestellt wird eine puritanische Religion vor deren Hintergrund sich der schrankenlose Hedonismus der westlichen Postmoderne umso effektvoller abhebt.

Eine Subversion ganz anderer Art begegnet dem Leser in den Romanen Der Mullah von Bullerbü (2000) von Wiglaf Droste und Gerhard Henschel sowie Der Scheich mit der Hundehaarallergie (2001) von Helge Schneider. Hier werden Versatzstücke von Klischees und Feindbildern ins Absurde gesteigert.

"Der Mullah von Bullerbü"

In Der Mullah von Bullerbü werden während "arabischer Wochen bei McDonalds" als Spezialitäten "frittierte Koptenfüße im Schlafrock, gepökelte Ungläubigenzungen und Aramäer in kochendem Öl" angeboten.

Was zunächst als alberner Klamauk daherkommt, etwa wenn im Hotel "Zur abgehackten Hand" Modezeitschriften ausliegen, die Titel wie "Frau ohne Spiegel", "Brigitte im Kartoffelsack" oder "Gegen Sie" tragen, entlarvt durch Übertreibung den Unsinn verallgemeinernder Klischees.

Das literarische Programm von Helge Schneider und Michel Houellebecq könnte unterschiedlicher kaum sein. Und dennoch treffen sie sich in der Darstellung des Islam als fundamental anders und fremd. Der Islam was er schon immer war: die Antithese des Westens.

Andreas Pflitsch

© Qantara.de 2004