Eine Weihnachts-Meditation

Wissenschaftler beginnen erst jetzt zu verstehen, wie weitgehend die Herrscher des indischen Mogulreiches die allgemein als ausschließlich christlich angesehene Verehrung von Jesus und Mutter Maria übernahmen. Ein Essay von William Dalrymple

Islamisches Bildnis der Geburt Jesus; Foto: National Museum, Neu Delhi
Erstaunliche Verehrung der Mogulherrscher für Jesus und Maria: Islamische Darstellung der Geburt Christi (um das Jahr 1720) im Nationalmuseum Neu Delhi

​​Im British Museum gibt es ein Manuskript aus dem 16. Jahrhundert, in dem ein Bild zu sehen ist, das auf den ersten Blick wie eine herkömmliche Szene aus der Weihnachtsgeschichte wirkt.

In der Mitte ist Maria zu sehen, wie sie das Christuskind in den Armen hält, dessen Arme liebevoll den Hals der Mutter umschließen. Im Vordergrund, nervös und nicht von ihrer Seite weichend, erkennt man die drei Weisen – im Begriff, ihre Geschenke darzubringen. So weit, so konventionell.

Ein zweiter Blick verrät jedoch, dass etwas an dem Bild seltsam ist. Die Weisen sind, nach ihrer Kleidung zu urteilen, Jesuiten und Maria lehnt an der Nackenrolle eines musnud, eines niedrigen indischen Throns. Außerdem ist sie von Dienerinnen umgeben, die Saris und Dupattas tragen.

Schließlich ist zu sehen, dass das Christuskind und seine Mutter unter einem Baum sitzen, außerhalb eines hölzernen Gartenpavillons – auch dies also streng nach islamischer Überlieferung, nach der Jesus ja nicht in einem Stall, sondern in einer Oase unter einer Palme geboren ist, deren Äste so weit herabhingen, dass sie während der Wehen noch Gelegenheit hatte, Früchte zu pflücken.

In der Koran-Version der Geburtsszene sitzt das Jesuskind, noch in den Windeln, aufrecht und spricht Marias Familie mit den Worten an: "Ich bin der Diener Gottes. Er gab mir das Evangelium und bestimmte mich zum Propheten. Sein Segen ist bei mir, wo immer ich hingehe und er befahl mir, standhaft im Gebet zu bleiben und den Armen mit Almosen zu helfen, so lange ich lebe."

Die Miniatur, die die Geburtsszene illustriert, gehört zu einer großen Zahl ähnlicher Werke, die vom Hof des Mogulreichs unter den Herrschern Akbar und Jehangir in Auftrag gegeben wurden.

Begeisterung der Moguln für die christliche Verehrung

Wir haben es hier mit einem der vielen Momente in der Geschichte der islamisch-christlichen Beziehungen zu tun, die die allzu vereinfachende Kritik in Samuel Huntingtons Theorie vom "Kampf der Kulturen" in Frage stellen.

Denn beide, Akbar (1542-1605) und sein Sohn Jehangir (1569-1627) waren begeisterte Anhänger von Jesus und seiner Mutter Maria, was für sie in keinerlei Widerspruch zu ihrem muslimischen Glauben stand oder zu der Tatsache, dass sie über eines der mächtigsten islamischen Reiche in der Geschichte herrschten.

Akbar der Große, ca. 1605; Foto: &copy wikipedia
Jalaluddin Muhammad Akbar, auch bekannt als "Akbar der Große" (1542-1605) legte den Grundstein für die über-konfessionelle religiöse Neutralität des modernen indischen Staates.

​​Und tatsächlich beginnen Wissenschaftler erst jetzt zu verstehen, wie weitgehend die Herrscher des indischen Mogulreichs die allgemein als rein christlich angesehene Verehrung von Jesus und der Mutter Maria übernahmen.

Alles begann 1580, als Akbar eine Gesellschaft jesuitischer Priester aus Goa zu sich an den Hof lud und ihnen gestattete, in seinem Palast eine Kapelle zu errichten. Dort waren von nun an zwei Gemälde der Madonna mit dem Kind zu sehen, die von einer großen und aufgeregten Menge betrachtet wurden.

Portugiesische Geistliche, die später folgten, entdeckten, dass die Evangelien, die ihre Vorgänger mitgebracht hatten, inzwischen auch Wandgemälde inspiriert hatten, auf denen nicht nur Christus zu sehen war, sondern auch seine Mutter und christliche Heilige; diese schmückten nicht nur die Wände des Palastes, sondern auch Gräber und Karawansereien:

"[Der Herrscher] hat Bilder von unserem Herrn und Unserer Lieben Frau an verschiedenen Stellen im Palast", schrieb ein jesuitischer Priester, "und es gibt so viele Heilige zu sehen, dass (…) man meinte, man sei im Palast eines christlichen Herrschers und nicht in dem eines maurischen."

Diese unerwartete Begeisterung der Mogulherrscher für die christliche Andacht ist ein sehr bedeutsamer Moment in der Geschichte der Beziehungen zwischen Muslimen und Christen und eine, der, natürlich, fast völlig in Vergessenheit geraten ist in unserer heute so polarisierten Welt nach den islamistischen Angriffen und dem "Krieg gegen den Terror", den sie zur Folge hatten.

"Die Welt ist eine Brücke – überquere sie!"

Im Jahr 1984 begegnete mir erstmals die erstaunliche Verehrung der Mogulherrscher für Jesus und seine Mutter. Ich erinnere mich daran, wie ich an einem trostlosen Dezembermorgen die breiten Treppen zur Freitagsmoschee in Fatehpur Sikri im Norden Indiens hinaufstieg.

Ich war ein 18jähriger Rucksacktourist und hatte gerade erst die Schule abgeschlossen. Ich genoss das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Es war kurz vor Weihnachten und nicht nur war weit und breit kein Weihnachtsbaum zu entdecken, noch irgendetwas, das auch nur entfernt an Weihnachten erinnert hätte. So dachte ich zumindest.

Doch als ich oben war, am Buland Darwaza, dem bogenförmigen Tor, das in den Inneren des Palastes führt, sah ich etwas, das mich elektrisierte. Ich stand vor einem der beeindruckendsten Zeugnisse islamischer Architektur. Doch was sich aus der in Naskh-Kalligrafie verfassten Inschrift, die das Innere des Bogens schmückt, entnehmen ließ, war folgendes:

"Jesus, Sohn von Maria (Friede sei mit ihr) sagte: 'Die Welt ist eine Brücke. Überquere sie, doch baue keine Häuser auf ihr. Der, der auf einen Tag hofft, mag für die Ewigkeit hoffen; die Welt überdauert nur einen Tag. Verbringe ihn im Gebet, denn der Rest bleibt verborgen.'"

Palast von Jalaluddin; Foto: &copy wikipedia
Worte Jesu Christi, die die Mauern der muslimischen Herrscher Indiens schmücken: Das Tor Buland Darwaza, das in den Palast von Jalaluddin Muhammad Akbar führt.

​​Die Inschrift überraschte mich gleich in zweifacher Hinsicht: Nicht nur war ich verwirrt, eine offensichtlich christliche Inschrift an einem muslimischen Monument zu finden, auch die Inschrift selbst erschien so seltsam. Natürlich klang es wie etwas, was Jesus gesagt haben könnte, doch hatte er wirklich gesagt, dass die Welt eine Brücke sei?

Und selbst wenn es so gewesen sein mochte: Warum ließ ein muslimischer Herrscher einen solchen Satz am Eingang seiner wichtigsten Moschee in der Hauptstadt seines Reiches anbringen?

Vermisste christliche Texte, bewahrt im Islam

Erst viel später, nachdem ich lange in Indien und dem Nahen Osten gelebt habe und oft gereist bin, begann ich zu verstehen und Antworten auf diese Fragen zu finden. Der Satz am Siegestor war, so erfuhr ich, einer von einigen hundert Sätzen und Geschichten zu Jesus, die sich in der arabischen und islamischen Literatur finden.

Einige von ihnen entstammen den vier kanonischen Evangelien, andere inzwischen verworfenen, frühen christlichen Texten wie dem gnostischen Thomasevangelium, weitere wiederum der unüberschaubaren mündlichen Überlieferung, möglicherweise authentischen Sprüchen und Geschichten – in anderen Worten einer Tradition, die im Islam bewahrt wurde, während sie im westlichen Christentum vergessen ist.

Diese Geschichten von Jesus zirkulierten in der ganzen muslimischen Welt zwischen Spanien und China, und viele von ihnen sind den gebildeten Muslimen bis heute vertraut. Sie ergänzen und verstärken zugleich das Bild tiefer Ehrerbietung, das von Jesus im Koran gezeichnet wird, wo er Messias genannt wird, Bote, Prophet, Wort und Geist Gottes, auch wenn – ebenso wie in einigen christlichen Lehren der damaligen Zeit – sein gottgleicher Status in Frage gestellt wird.

Auch Mutter Maria wird häufig erwähnt und in nicht weniger als 13 Suren des Korans genannt. Von ihr wird darin gesagt, dass sie "erhaben über die Frauen der beiden [himmlischen und irdischen] Welten" sei und – wie Jesus – "ein Modell" für Muslime. Tatsächlich ist Maria sogar die einzige Frau, die im Koran mit richtigem Namen genannt wird; auch wird sie dort häufiger erwähnt (34 Mal) als in den Evangelien, wo sie nur 19 Mal erwähnt wird.

Eigentlich sollte dies nicht überraschen. Schließlich entstammen sowohl das Christentum als auch der Islam dem gleichen Kulturkreis des Nahen Ostens. Der Islam übernahm sehr viel vom Alten wie von Neuen Testament und beachtete die mosaischen Gesetze von der Beschneidung und den Waschungen.

"Unser Gott und Euer Gott sind einer"

Tatsächlich geht der Koran sogar so weit zu sagen, dass die Christen den Muslimen "am nächsten in der Liebe sind" und ermahnt alle Muslime in Sure 29, „sich nicht mit den Völkern des Buches [also Juden und Christen] zu streiten, es sei denn auf die beste Art und Weise … und sprecht zu ihnen: 'Wir glauben an das, was zu uns und zu euch herab gesandt wurde; und unser Gott und Euer Gott ist Einer; und ihm sind wir ergeben.'"

Wie in den Evangelien wird Jesus nach muslimischer Tradition als Heiler angesehen, als wundertätig und Vorbild an gutem Verhalten, Sanftheit und Mitgefühl. Zugleich jedoch wird er als "Herr über die Natur" dargestellt, der ebenso vermag, mit Tieren zu sprechen wie er die Berge und Steine dazu bringen kann, ihm zu gehorchen.

Doch vor allem ist der muslimische Jesus der Patron der Askese, der der Welt abschwört, in verlassenen Ruinen lebt, sich mit den Armen identifiziert und für die Tugenden von Demut und Geduld eintritt.

In seiner asketischen Rolle erschien er in der islamischen Welt immer wie eine Art Sufi-Großmeister, dem es vergönnt ist, Geheimnisse des Herzens zu verstehen, die sich dem menschlichen Verstand entziehen.

Liebe zu Gott und zu den eigenen Brüdern

Der Mogul Akbar, der Fatehpur Sakri gründete und erbauen ließ, war besonders von diesen Geschichten um Jesus angetan. Der Herrscher war ein Sufi-Mystiker, der glaubte, dass alle Existenz eins sei, Manifestation einer allgegenwärtigen göttlichen Realität. Die Liebe zu Gott und den eigenen Brüdern, war, so glaubte er, wichtiger als feste religiöse Zugehörigkeiten.

Geleitet von dieser aufgeklärten Philosophie wurde Akbars Herrschaft nicht nur durch Kriege, sondern auch durch Verständigung zum Erfolg. Seine Methode, die er seinen religiösen Überzeugungen ebenso verdankte wie seinem Vertrauen auf die "Realpolitik", bestand darin, die Mogulherrschaft auch für seine mehrheitlich nicht-muslimischen Untertanen akzeptabel zu machen.

William Dalrymple; Foto: Jerry Bauer
Christentum und der Islam nicht annähernd so weit voneinander getrennt sind, wie sowohl Bin Laden als auch die westlichen Kulturchauvinisten uns glauben machen wollen: Der britische Historiker William Dalrymple

​​Und so konnte es sein, dass zur gleichen Zeit, da der größte Teil des katholischen Europa – wie auch das portugiesisch dominierte Goa – in den Würgegriff der Inquisition geriet und Giordano Bruno wegen Ketzerei auf dem römischen Campo die Fiori verbrannt wurde, der Mogul Akbar in Fatehpur Sakri erklärte, dass "niemand an der Ausübung seiner Religion gehindert werden sollte und dass ein jeder zu der Religion wechseln kann, die ihm gefällt."

Mit diesem Respekt vor der Vielfalt religiöser Überzeugungen in Indien legte Akbar den Grundstein für die über-konfessionelle religiöse Neutralität des modernen indischen Staates.

Heute, wo die Welt in ihren religiösen Zugehörigkeiten zerrissen ist wie nie zuvor, ist die Überzeugung des Mogul, dass unterschiedliche Glaubensgemeinschaften voneinander lernen können, indem sie einander zuhören und dass das Verständnis verschiedener Glaubenstraditionen für das Funktionieren eines Staates von entscheidender Bedeutung sind, eine Erkenntnis, die bedeutsamer ist als es jemals der fall war – und das nicht nur für Indien.

Fest der Menschlichkeit Christi

Darüber hinaus ist es wichtig zu betonen, dass das Christentum und der Islam nicht annähernd so weit voneinander getrennt sind, wie sowohl Bin Laden als auch die westlichen Kulturchauvinisten uns glauben machen wollen.

Wie die Miniatur der Geburt unter den Bäumen uns zeigt, existieren sicherlich große Unterschiede zwischen unseren beiden Glaubensrichtungen – vor allem wahrscheinlich darin, dass, zumindest die überwiegende Mehrheit der Christen an die Göttlichkeit Jesu glaubt. Doch ist Weihnachten – die Feier der Menschlichkeit Christi – ein Fest, das Christen wie Muslime ohne Vorbehalte miteinander teilen können.

Gerade jetzt, wo sich der christliche Westen und der islamische Osten einmal mehr in einem großen Konflikt befinden, ist es notwendig, dass beide Seiten erkennen, was ihnen gemeinsam ist und sich, wie es die Miniatur zeigt, um das Jesuskind versammeln und für Frieden beten.

William Dalrymple

© William Dalrymple 2009

William Dalrymple ist britischer Historiker und Reisejournalist. Mit seinem Buch "The White Mughals" gewann er den "Wolfson Prize for History". Zuletzt erschien 2009 sein Buch "Nine Lives: In Search of the Sacred in Modern India".

Qantara.de

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