Unversöhnliche politische Lager

Vor den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag sind die Fronten verhärtet. Die nationalistische Rhetorik der Opposition ist unüberhörbar, die politischen Konfliktlinien verlaufen quer durch die türkische Gesellschaft. Ömer Erzeren informiert.

Vor den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag sind die Fronten verhärtet. Die nationalistische Rhetorik der Opposition ist unüberhörbar, die politischen Konfliktlinien verlaufen quer durch die türkische Gesellschaft. Ömer Erzeren informiert aus Istanbul.

Anhänger Erdogans bei einer AKP-Wahlveranstaltung in Istanbul; Foto: AP
Mit dem Rücken zur Wand: Die AKP unter Erdogan muss Kompromisse mit ihren politischen Gegnern finden, auch wenn sie erneut gute Chancen hat, die Wahl zu gewinnen.

​​Für die regierende "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan geht es bei den Parlamentswahlen am 22. Juli darum, die absolute Mehrheit der Parlamentssitze zu erreichen. Bei den Wahlen 2002 konnte die Partei noch mit 34 Prozent der Stimmen fast Zweidrittel der Mandate im Parlament erringen.

In ihrem Wahlkampf setzt die AKP inhaltlich auf die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei und die damit verbundenen hohen Wachstumsraten. Erdogan verspricht, an der Kontinuität der Regierungspolitik festzuhalten.

Politische Misserfolge der AKP

Doch die konservativ-islamische Partei ist angeschlagen. Bei der Wahl des Staatspräsidenten durch das Parlament im vergangenen April suchte sie nicht den Kompromiss mit der Opposition. Ihr Kandidat Aussenminister Abdullah Gül, verfehlte die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit, wie das von der Opposition angerufene Verfassungsgericht befand.

In einer Erklärung, die der Generalstab auf seiner Web-Seite verbreitete, wurde die Regierung bezichtigt, den Laizismus – die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Trennung von Staat und Religion – auszuhöhlen. Massendemonstrationen in vielen großen Städten der Türkei, die vor allem von städtischen Mittelschichten und Frauen getragen wurden, richteten sich unmittelbar gegen die Regierung, der eine heimliche "islamistische Agenda" vorgeworfen wurde.

Hinzu kommt, dass in Sommermonaten durch Minen und Anschläge der kurdischen PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) verstärkt Soldaten und Zivilisten ums Leben kamen. Auf Beerdigungen gefallener Soldaten wurden Kabinettsmitglieder ausgepfiffen.

Mit nationalistischen Themen auf Stimmenfang

Mit einer nationalistischen Rhetorik, die den "Terrorismus" zum entscheidenen Wahlkampfthema erhebt, versucht die "Republikanische Volkspartei" (CHP) auf Stimmenfang zu gehen. Ihr Vorsitzender Deniz Baykal hat längst sozialdemokratische Positionen verlassen und verkündet eine nationalistisch-populistische Programmatik.

Die CHP erhielt bei den Wahlen 2002 19 Prozent der Stimmen und schaffte als einzige Oppositionspartei den Einzug ins Parlament. Sie wird bei den kommenden Wahlen ihr Ergebnis wohl verbessern können, zumal sie dieses Mal im Bündnis mit der "Partei der demokratischen Linken" (DSP) auftritt.

Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung, die sozial nicht abgefedert wurde, hat die AKP an Symphatien verloren. Angst vor materieller Verelendung und den Folgen der Globalisierung werden im Zusammenhang mit Nationalismus von der CHP im Wahlkampf thematisiert.

Die umstrittenen Privatisierungen der AKP-Regierung, genau wie die Zunahme der PKK-Anschläge, gipfeln in Baykals Diskurs darin, dass die AKP den "Ausverkauf nationaler Interessen" betreibe.

Mobilmachung der rechtsextremen Parteien

Die rechtsextreme "Nationalistische Aktionspartei" (MHP) geht noch einen Schritt weiter. Für den Vorsitzenden der Partei, Devlet Bahceli, ist Ministerpräsident Erdogan der "größte politische Terrorist und Brandstifter."

Auf einer Wahlkampfveranstaltung wedelte Bahceli mit einem Galgen. Gemünzt auf den Vorsitzenden des zu lebenslanger Haft verurteilten PKK-Führers Abdullah Öcalan rief er: "So hängt ihn doch auf!" Die MHP fordert einen sofortigen militärischen Einmarsch in den kurdischen Nordirak, wo sich PKK-Stützpunkte befinden.

Bei den vergangenen Wahlen erhielt die MHP 8,3 Prozent der Stimmen und verfehlte wegen der 10-Prozent-Hürde den Einzug ins Parlament. Angesichts der auggeputschten Stimmung, die das nationalistische Lager gestärkt hat, gilt es jedoch bei den kommenden Wahlen als sehr wahrscheinlich, dass die MHP den Sprung über die 10-Prozent-Hürde schafft und somit ins Parlament einzieht.

Selbst die "Junge Partei" (GP), die der obskure Unternehmer und Multi-Millionär Cem Uzan gegründet hat (dessen Vater und Bruder seit Jahren wegen Steuerbetrugs flüchtig sind), könnte ins Parlament einziehen. Auch Uzans Angriffe gegen die AKP-Regierung stehen in nichts der rechtsextremen Wortwahl der MHP nach.

So sind es zwei unversöhnliche Lager, die sich bei den Wahlen gegenüber stehen. Selbst wenn die AKP die absolute Mehrheit erzielen sollte, wird sie nach den vergangenen politischen Ereignissen es mit dem Regieren schwerer haben, als noch in der vergangenen Legislaturperiode.

Bei der Wahl des Staatspräsidenten, die unmittelbar nach den Wahlen ansteht, müsste sie einen politischen Kompromiss suchen. Verfehlt sie die absolute Mehrheit, wird sie kaum einen Koalitionspartner finden können.

Die Chancen der "Unabhängigen"

Hinzu kommt, dass bei diesen Wahlen unabhängige Kandidaten ins Parlament einziehen werden. Die kurdische "Partei der demokratischen Gesellschaft" (DTP), die bei den vergangenen Wahlen landesweit auf über sechs Prozent der Stimmen kam, schickt heute so genannte "Unabhängige", "Parteilose" ins Rennen, für die die 10-Prozent-Hürde nicht gilt.

Man rechnet damit, dass die Kurden rund 20 bis 30 Abgeordnete im Parlament stellen könnten – genug, um später wieder in der Partei zusammenzukommen und eine Fraktion zu bilden. Auch den unabhängigen, linken Kandidaten in den türkischen Großstädten werden Chancen eingeräumt.

Sollten die Unabängigen gar verhindern, dass weder die AKP noch die "nationalen Parteien" über eine parlamentarische Mehrheit verfügen, wäre das Land praktisch unregierbar. Koalitionen mit ihnen gelten als Landesverrat. Verfehlt die AKP ihr Ziel einer starken Mehrheit, ist die Wahrscheinlichkeit politisch instabiler Regierungen ohnehin recht groß.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2007

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