Meilenstein für das Mutterland der Arabellion

Die ersten freien Wahlen in Tunesien sind ein entscheidender Schritt in der demokratischen Entwicklung des ersten arabischen Landes, das seinen Diktator davongejagt hat, meint die Nordafrika-Expertin Isabel Schäfer.

Von Isabel Schäfer

Die bevorstehenden Wahlen in Tunesien haben einen sehr hohen symbolischen Wert, insbesondere für die weitere Entwicklung des arabischen Frühlings in der gesamten Region Nordafrikas, des Nahen Ostens und der Golfregion. Insofern werden die Wahlen auch in Europa mit sehr großem Interesse erwartet.

Die Mehrheit der europäischen Bevölkerungen sowie der politischen Beobachter und Entscheidungsträger sind davon überzeugt, dass die Wahlen in Tunesien einen positiven Verlauf nehmen werden, dass Tunesien ein demokratisches System aufbauen wird und dass die Wahlen fair und frei ablaufen werden. Über das Ergebnis der Wahlen wird viel spekuliert und diskutiert.

Neue Möglichkeiten

Die Auswirkungen der Wahlen auf die Beziehungen zu Europa können einerseits positiv sein, in dem Sinne als die tunesisch-europäischen Beziehungen, die bereits in der Vergangenheit sehr eng waren, jetzt im Zuge des demokratischen Neubeginns noch intensiver werden - aber auch viel differenzierter und vielfältiger. Eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten für Kooperationen tut sich auf.

Wahlkampfplakat in Tunis; Foto: DW
"Die Mehrheit der europäischen Bevölkerungen sowie der politischen Beobachter und Entscheidungsträger sind davon überzeugt, dass die Wahlen in Tunesien einen positiven Verlauf nehmen werden", meint Schäfer.

​​Das europäische Interesse an Tunesien ist in vielen Bereichen sehr gewachsen. Die Verhandlungen über das Statut avancé, die bereits vor der Revolution weit fortgeschritten waren, werden mit der neuen Regierung sicherlich zügig abgeschlossen. Neben den dadurch entstehenden ökonomischen Vorteilen, hat die EU aber bereits in den letzten Monaten zusätzliche Sondermittel zur Unterstützung des Transformationsprozesses zur Verfügung gestellt. Andererseits könnten sich – im Fall eines eindeutigen Wahlsiegs der (islamistischen, Anm. d. Red.) Ennahda-Partei – die Wahlen auch negativ auf die zukünftigen tunesisch-europäischen Beziehungen auswirken. Hier bestehen durchaus Bedenken.

Die Perspektiven für die Beziehungen der EU zu Tunesien im Hinblick auf die viel genannte "Stabilität" und Demokratie im Land, sowie im Hinblick auf die zukünftige Kooperation mit Europa gestalten sich jedoch vielfältig. Auch wird unter "Stabilität" jetzt nicht mehr Festhalten und Kooperation mit autoritären Staaten verstanden. Das ist immerhin ein Fortschritt im europäischen Diskurs.

Herausforderungen für die neue Regierung

Risiken für die weitere Entwicklung in Tunesien und damit indirekt auch für die Beziehungen zu Europa bestehen vor allem darin, die sozio-ökonomischen Schwierigkeiten in der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Große Herausforderungen für die neue Regierung werden sein, ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den Bürgern zu behaupten, der Korruption entgegen zu wirken, sowie Transparenz über politische Entscheidungsprozesse und den Staatshaushalt zu gewährleisten.Die Bewältigung des seit der Revolution eher noch schwieriger gewordenen Alltags steht für viele Wähler im Vordergrund, insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit.

Parteiprogramme verschiedener tunesischer Parteien; Foto: DW
Mehr als 100 Parteien stellen sich bei den ersten freien Wahlen in Tunesien zur Wahl.

​​Zentral wird auch die zukünftige Arbeit an der neuen Verfassung sein. Die Mehrheit der Europäer sieht auf der Grundlage der eigenen historischen Erfahrung eine Verfassung, die Staat und Religion trennt, als zentralen Meilenstein im Demokratisierungsprozess. So hofft man, dass sich die säkularen Akteure in der verfassungsgebenden Versammlung durchsetzen werden. Gleichzeitig gibt es auch ein zunehmendes Verständnis für die Optionen eines Staatsmodell à la Türkei, das Demokratie und Islam miteinander in Einklang zu bringen versucht. Dabei müssten die Menschenrechte und persönlichen Freiheiten der Bürger jedoch sowohl in der Verfassung als in deren Umsetzung garantiert sein.

Europa sollte Tunesien kurz- und mittelfristig vor allem im Bereich der sozio-ökonomischen Schwierigkeiten unterstützen (z.B. durch sozial orientierte Wirtschaftsförderung, Ausbildung, Beiträge zur Wiederbelebung des Tourismus-Sektors oder eine Erhöhung der Auslandsinvestitionen), durch eine menschenfreundlichere und flexiblere Migrationspolitik, durch Bildungs- und Austauschprogramme.

Nachhaltige Politik gefordert

Angesichts der zahlreichen globalen und regionalen Herausforderungen (wie z.B. Migration, Klimawandel, Lebensmittelpreise, Energieressourcen), die auch erheblich die weitere Entwicklung Tunesiens beeinflussen, kann nachhaltige Transformation aber nur dann entstehen, wenn diese auf auch regionaler Ebene gefördert wird. Daher ist eine Intensivierung regionaler Programme und Wiederbelebung bzw. Neudefinition multilateraler Kooperationsrahmen, wie der "Union für das Mittelmeer" (UfM), notwendig. Auch wenn der Mittelmeerraum zunehmend fragmentierter und heterogener wird.

Wahlurne in Tunesien; Foto: AP/DW
"Die tunesische Gesellschaft hat sich aus eigenen Kräften von ihrem autoritären System befreit und sollte vom Westen endlich auf gleicher Augenhöhe betrachtet werden", meint Schäfer.

​​Der Wandel ist noch lange nicht abgeschlossen. In den einzelnen Ländern der MENA-Region werden sich die Transformationsprozesse sehr unterschiedlich entwickeln. Insofern muss die europäische Politik flexibel und differenzierter werden und sich den entsprechenden Kontexten anpassen.

Die "New Response to a Changing Neighbourhood" von Mai 2011, unter der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton entstanden, ist hier nur ein erster Schritt. Die EU hat aber erst teilweise realisiert, dass für eine effiziente, ausgewogenere euro-mediterrane und damit auch tunesisch-europäische Kooperation weder Konditionierung noch Geber-Nehmer-Mentalität hilfreiche Ansätze sind. Die tunesische Gesellschaft ist in weiten Teilen modern, emanzipiert, selbstbewusst und entwickelt. Sie hat sich aus eigenen Kräften von ihrem autoritären System befreit und sollte endlich auf gleicher Augenhöhe betrachtet werden. Dazu gehören insbesondere fairere Handelsbeziehungen und konkrete Unterstützung in den genannten Bereichen.

Doch bei aller Kritik, die in den letzten Monaten an der EU-Politik geäußert wurde, muss auch erwähnt werden, dass die Empathie und das Vertrauen von Europa in den demokratischen Transformationsprozess Tunesiens gewachsen sind und dass Europa versucht, sich auf den verschiedensten Ebenen konstruktiv und solidarisch in diesen Prozess einzubringen.

Isabel Schäfer

© Deutsche Welle 2011

Dr. Isabel Schäfer ist Politikwissenschaftlerin und Maghreb-Experin an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de