Kein Platz für Gegenwartskunst

Mit der Villa des Arts erhielt Casablanca vor ein paar Jahren einen Ausstellungsraum, der es mit vergleichbaren Institutionen in Europa aufnehmen konnte. Die Ausrichtung hin auf die Kunst der Gegenwart stiess allerdings auf massiven Widerstand.

Casablanca gilt als steiniger Boden für Kultur. Mit der Villa des Arts erhielt die marokkanische Metropole vor ein paar Jahren einen Ausstellungsraum, der es mit vergleichbaren Institutionen in Europa aufnehmen konnte. Die Ausrichtung hin auf die Kunst der Gegenwart, mit der sich das Haus international zu positionieren suchte, stiess vor Ort allerdings auf massiven Widerstand. Von Beat Stauffer

Sylvia Frei-Belhassan; Foto: Beat Stauffer
Die Kulturmanagerin Sylvia Frei-Belhassan zählt zu den besten Kennern der zeitgenössischen marokkanischen Kunst

​​In der lärmigen und chaotischen Metropole Casablanca, die mit ihren Industriezonen, ihren wohlhabenden Vorstädten und ihrem beängstigend grossen Gürtel von Slums immer mehr ins flache Umland ausufert, muss man die attraktiven Orte mit der Lupe suchen. Doch es gibt sie, und die meisten stammen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, als Architekten aus halb Europa in Casablanca ein reiches Betätigungsfeld vorfanden.

Ein solches Juwel aus vergangenen Zeiten ist die weisse Villa im Art-déco-Stil am Boulevard Brahim Roudani. Umgeben von einem grossen, gepflegten Garten und untadelig restauriert, überstrahlt der kubische Bau die Hässlichkeiten in der näheren Umgebung. Es ist die Villa des Arts, die 1934 als privater Wohnsitz eines Unternehmers erbaut wurde und die heute als Ausstellungsraum und Kulturzentrum dient.

Sie befindet sich im Besitz der Stiftung ONA, der bedeutendsten Industrieholding des Landes, an der wiederum der Königspalast Hauptaktionär ist. In der prächtigen Villa wird zum einen die stiftungseigene Sammlung von Werken marokkanischer Künstler in würdigem Rahmen präsentiert. Zum andern hat sich die Stiftung zum Ziel gesetzt, selber Ausstellungen zu organisieren.

Ein Raum für Gegenwartskultur

Am Zustandekommen dieses ambitiösen Projekts hat die seit über vierzig Jahren in Marokko lebende Schweizerin Sylvia Frei-Belhassan einen entscheidenden Anteil. Bereits in der Planungsphase, so erklärt sie im Gespräch, habe sie die Verantwortlichen der Stiftung ONA davon überzeugen können, dass die damals noch leer stehende Villa ein idealer Ort für das neue Kulturzentrum wäre.

1996 begann eine enge Zusammenarbeit; wenig später wurde ihr die Leitung des Projekts übertragen. Nach zwei Jahren Umbau und einer intensiven Planungsphase konnte die Villa des Arts im Juni 1999 eröffnet werden. Casablanca hatte damit einen Ausstellungsraum mit landesweiter Ausstrahlung erhalten, der auch international Beachtung fand.

Mit der Wahl von Sylvia Frei-Belhassan hatten die Verantwortlichen der ONA auf die richtige Karte gesetzt. Denn die mit einem Marokkaner verheiratete Kulturmanagerin, die sich in den sechziger Jahren an der Kunstgewerbeschule Zürich zur Keramikerin hatte ausbilden lassen, zählt zu den besten Kennern der zeitgenössischen marokkanischen Kunst.

Sylvia Frei-Belhassan habe an der Entwicklung der marokkanischen Gegenwartskunst einen entscheidenden Anteil, urteilt etwa die Literaturprofessorin Fatima Zohra Akalay. Sie habe eine ausserordentliche Fähigkeit, junge Talente zu entdecken und zu fördern, und in Fachkreisen geniesse sie einen ausgezeichneten Ruf. Auch andere Stimmen äussern sich in ähnlichem Sinn.

Entscheidend für Frei-Belhassans Beziehungsnetz und ihr berufliches Know-how waren die zwanzig Jahre, während deren sie für eine der besten Galerien der Hauptstadt Rabat gearbeitet hatte. Noch heute ist sie stolz darauf, dass es ihr im Lauf der Jahre gelungen war, ein marokkanisches Publikum für moderne Kunst zu begeistern.

Als die Galerie "L'Atelier" in Rabat 1991 ihre Tore schliessen musste, habe sie ein tolles Stammpublikum gehabt, das aber schlicht über kein Budget für Kunst verfügt habe.

Als die Verantwortlichen der Stiftung ONA einige Jahre später an sie herantraten und ihr Aufbau und Leitung der Villa des Arts übertrugen, zögerte Sylvia Frei-Belhassan nicht lange.

Ein "Espace", ein Raum für Gegenwartskultur schwebte ihr vor, in dem zeitgenössische Malerei, Skulptur, Installationen, Videos, Architektur und Design die Schwerpunkte setzten; der Blick über die Grenzen sollte selbstverständlich sein. So etwas existierte bis anhin in ganz Marokko nicht.

Frei-Belhassan suchte für ihre Ausstellungsprojekte denn auch eine Zusammenarbeit mit renommierten europäischen Museen. Für die erste Ausstellung mit dem Thema "L'Objet Desorienté au Maroc" konnte sie das Musée des Arts Décoratifs in Paris gewinnen, für die darauf folgende, die der zeitgenössischen Textilkunst gewidmet war, das Museum "Reina Sofia" in Madrid.

Für eine Ausstellung über Architektur in Casablanca von 1900 bis 1960 konnte der französische Energiegigant EDF als Partner gewonnen werden.

Brüskes Ende

Doch dann war Schluss. Obwohl die 25 von Sylvia Frei-Belhassan realisierten Ausstellungen sowohl in der Fachwelt wie auch in der Kulturszene von Casablanca auf erfreuliches Echo gestossen waren, wurde die initiative Kulturmanagerin von den Verantwortlichen der ONA mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei zu "elitär", die Ausstellungen seien zu teuer und vor allem würden zu wenig marokkanische Künstler gezeigt.

Nach den Anschlägen von Casablanca wurde zudem gefordert, man müsse mehr für die Jugendlichen aus den Banlieues tun; für Frei-Belhassan ein wichtiges Anliegen, für das sie schon seit Jahren kämpfte, das sich aber mit ihrem Ausstellungskonzept nicht in Deckung bringen liess.

"Es ist eine Illusion, diese jungen Menschen aus den Bidonvilles in ein Kulturzentrum in der Innenstadt zu holen", sagt Frei-Belhassan. Man müsste vielmehr auf diese zumeist perspektivelosen Jugendlichen zugehen und kulturelle Aktivitäten in den Aussenquartieren initiieren. Doch dafür brauchte es besondere Konzepte und nicht zuletzt finanzielle Mittel.

Dass die Villa des Arts innert fünf Jahren zu einem Leuchtturm der zeitgenössischen Kultur in Marokko geworden war und entsprechend auch dem Sponsor ONA einiges Prestige verschaffte, scheint den Verantwortlichen entgangen zu sein. Da Frei-Belhassan nicht bereit war, sich den Konzepten ihrer Auftraggeber zu beugen, verliess sie im Herbst 2004 das Haus, das sie selber aufgebaut hatte.

Ihre Nachfolgerin blieb kaum ein halbes Jahr im Amt. Dann war das Haus vorübergehend geschlossen. Vor wenigen Wochen wurde nun eine neue Ausstellung angekündigt: Sie ist den "Arts traditionels" gewidmet.

Dieser Vorgang steht in Marokko nicht isoliert da. Auch im Musée de Marrakech wurde kürzlich die Direktorin freigestellt, die nach Auffassung des Geldgebers zu stark auf zeitgenössische Kunst gesetzt hatte, und durch eine Nachfolgerin abgelöst, die herkömmliches Kunstschaffen in den Vordergrund stellt.

Frei-Belhassan sieht in dieser Rückbesinnung auf die Traditionen einen Ausdruck des Erstarkens der konservativ-islamistischen Kreise im Land. Hand in Hand damit gehe ein wiedererwachtes Interesse für die sogenannt orientalistischen Maler.

Die "Bourgeoisie" von Casablanca kaufe momentan vor allem solche Bilder, und zeitgenössische Kunst habe kaum eine Chance. Die materielle Situation für junge marokkanische Künstler sei heute prekärer denn je. Fast alle guten Künstler der jüngeren Generation gingen deshalb ins Ausland, weil es in Marokko "ganz einfach keinen Platz für sie hat".

Keine Priorität für Kultur

Grosse Defizite sieht die langjährige Beobachterin und Akteurin auch in anderen Bereichen des marokkanischen Kulturlebens. Die Ausbildung an der Kunstakademie von Casablanca sei schlecht und sei im Denken der fünfziger Jahre stehen geblieben, und an den meisten Schulen gebe es keine Kunsterziehung, die diesen Namen verdiene. Kunst, so konstatiert Frei-Belhassan resigniert, sei die letzte der Prioritäten in diesem Land und irgendwie könne sie das auch verstehen.

Auch wenn die Medien im Land in den letzten Jahren deutlich freier geworden sind und das neue Frauen- und Familienrecht einen substanziellen gesellschaftlichen Fortschritt markiert, kontrastiert diese eher pessimistische Einschätzung der Kulturszene mit dem Bild des Aufschwungs, das man sich vielerorts in Europa vom Marokko des Königs Mohammed VI. macht.

Existiert nicht eine neue Zivilgesellschaft, die sich in Tausenden von Vereinigungen bemerkbar macht? Im sozialen Bereich treffe dies gewiss zu, meint Frei-Belhassan, doch im Kulturleben sei davon weit weniger zu spüren. Sie habe manchmal den Eindruck, als sei die Gesellschaft "eingeschlafen".

Am liebsten möchte sie die Entscheidungsträger aufrütteln: Der König habe zwar viel guten Willen, doch allein könne er die grosse Aufgabe unmöglich bewältigen.

Beat Stauffer

© Neue Zürcher Zeitung, 16.August 2005

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