Wiederholung trotz Erinnerung?

Deutschland sieht sich selbst gerne als Exportweltmeister einer Erinnerungspolitik, die zwei deutsche Diktaturen überwand. Doch ist damit die deutsche Gesellschaft vor der Wiederkehr von Pogromen gefeit? Dies fragen sich hierzulande auch viele Menschen mit Migrationshintergrund. Von Sonja Hegasy

Von Sonja Hegasy

Die Aufarbeitung der Gräuel des Nationalsozialismus begann erst spät, Ende der sechziger Jahre. Seitdem aber hat sich ein Großteil der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Wissenschaft, Kultur und Politik mit dem Aufstieg des Faschismus, der Entwertung menschlichen Lebens und dem Holocaust auseinandergesetzt – wenn auch bis heute gegen gewaltsame Widerstände.

Trotzdem wird international auf Deutschland verwiesen, wenn es um die Aufarbeitung vergangener Verbrechen und den Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie geht. Vielen gilt Deutschland als "Musterschüler" für den Umgang mit Genozid und Massenmord. Die renommierte US-amerikanische Ethnologin Susan Slyomovics, Autorin des Buches "How to Accept German Reparations", spricht von den vielfältigen Formen deutscher Erinnerungspolitik als gold standard für Vergangenheitsbewältigung.

Industrieller Massenmord der NS-Zeit als Zäsur

Erst nach dem deutschen Zivilisationsbruch der NS-Zeit, dem industriellen Morden von Nachbarn und Mitbürgern, wurde dem Erinnern ein zentraler Platz in der Bewältigung der Vergangenheit eingeräumt. Die immer wieder betonte Grundlage dieser Erinnerungspolitik lautet, dass "jene, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können, verdammt sind, sie zu wiederholen."

Kaum eine Einweihung eines Mahnmals, eine wissenschaftliche Publikation oder Gedenktag ohne Verweis auf diesen Satz. Im Umkehrschluss soll dies bedeuten: Wer sich erinnert, ist nicht verdammt zu wiederholen. Nach mehr als 40 Jahren öffentlicher Vergangenheitsbewältigung müsste Deutschland der beste Testfall für die Überprüfung dieses Diktums sein.

"Facism never again"- demonstrators protest outside a European National Front conference in Koblenz, January 2017 (photo: picture-alliance/dpa/B. Roessler)
Nie wieder Faschismus? Wenn Deutschland so erfolgreich in seiner Erinnerungspolitik ist, wie immer behauptet, müssten Menschen mit Migrationshintergrund folglich relativ sicher hierzulande leben. Dennoch hegen an dieser Einschätzung viele Neuzuwanderer und Flüchtlinge berechtigte Zweifel: In Deutschland befinden sich rechtspopulistische Bewegungen im Aufwind, ausländerfeindliche und islamophobe Übergriffe haben in jüngster Zeit zugenommen.

Sind also Menschen in Deutschland vor der Wiederkehr von Pogromen durch die breite gesellschaftliche Erinnerung gefeit? Dies fragen sich viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland angesichts des Marschs der aggressiven Rechtspopulisten durch die Institutionen.

Welche Garantien der Nicht-Wiederholung haben sie oder sind sie nur besonders dünnhäutig, weil auch sie sich der deutschen Vergangenheit erinnern? Allein im letzten Jahr wurden bei Angriffen 560 Flüchtlinge, darunter 43 Kinder, verletzt. Es gab 217 gemeldete Attacken auf Helfer und Hilfsorganisationen. Anschläge auf Asylunterkünfte finden im ganzen Land statt.

Erinnerung an vergangenes Unrecht als Mittel zur Versöhnung einzusetzen ist erstaunlich neu. Erst Ende der 1990er Jahre wurde sie als Transitional Justice zu einer expliziten Form der Aufarbeitung vergangener Verbrechen.

Vergessen um des gesellschaftlichen Friedens willen

In der europäischen Geschichte war es bis dato vielmehr das Vergessen, das einen Schlusspunkt zwischen den verfeindeten Gruppierungen setzen sollte, wie der Historiker Christian Meier in seinem Buch "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns - vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit" gezeigt hat. Hauptverantwortliche wurden in der Geschichte zwar benannt und manchmal auch zur Rechenschaft gezogen, aber fast immer überwog der Ansatz, geschehenes Unrecht nicht zu verfolgen, um zu einem friedlichen Zusammenleben zu finden.

Im Mittelalter und in der Neuzeit sollte das Vergessen den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder herstellen, wie der Historiker Meier am Edikt von Nantes 1598, am Westfälischen Frieden 1648 oder an den Ostverträgen des Jahres 1918 zeigt.

Protestplakate gege Angriffe auf Flüchtlingseinrichtungen in Bautzen; Foto: DW/B. Knight
Sind Menschen in Deutschland vor der Wiederkehr von Pogromen durch die breite gesellschaftliche Erinnerung wirklich gefeit? Dies fragen sich viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland angesichts des Marschs der aggressiven Rechtspopulisten durch die Institutionen. Allein im letzten Jahr wurden bei Angriffen 560 Flüchtlinge, darunter 43 Kinder, verletzt. Es gab 217 gemeldete Attacken auf Helfer und Hilfsorganisationen. Anschläge auf Asylunterkünfte finden im ganzen Land statt.

Neben 56 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg waren Zwangsmigration und Völkerwanderungen in bis dahin ungekanntem Ausmaß die Folge des Krieges. Helfen die Flüchtlingshelfer Opfern von Krieg und Vertreibung, weil sie wissen, wie Deutschland nach 1933 erst die eigene Gesellschaft und dann die ganze Welt mit in den Abgrund riss?

Wiederkehrende Erinnerungen an die Nazi-Verbrechen

Wenn man mit nach Deutschland Geflüchteten spricht, hört man, dass sie davon überzeugt sind, dass viele Deutsche sich unter anderem auch in der Flüchtlingshilfe engagieren, weil sie sich an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern. Andere würden an den intellektuellen Aderlass der dreißiger und vierziger Jahre denken, so einige der geflüchteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Türkei.

Am Weltflüchtlingstag 2014 erklärte Bundesminister Dr. Thomas de Maizière noch: "Gerade wir Deutschen wissen, welches menschliche Leid hinter jedem einzelnen Flüchtlingsschicksal steckt, denn wir haben es damals selbst erfahren, und wir haben es anderen Menschen zugefügt. Daraus erwächst eine besondere historische und humanitäre Verantwortung gegenüber Flüchtlingen. Ich freue mich über die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene Hilfsbereitschaft in Deutschland."

Die in Berlin lebende iranische Journalistin Mahdis Amiri sieht, wie beide Gruppen in Deutschland – jene, die Flüchtlinge willkommen heißen, und jene, die den "Zustrom stoppen" wollen – mit Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg argumentieren – letztere nach dem Motto "Uns wurde auch nichts geschenkt!" und "Auch wir wurden vertrieben".

Mit Blick auf den Krieg in Syrien, wird von ihnen eine neue Art des Kriegsrevisionismus betrieben. Wird die Lackschicht der weltweit so bekannten deutschen Erinnerungspolitik nun Brandblasen werfen?

Ich hoffe, dass sich der eingangs zitierte Satz über die Kausalität zwischen Erinnerung und Verhinderung bewahrheiten wird. Garantien gibt es dafür trotz der Errungenschaften, die Deutschland auf dem Gebiet der Vergangenheitsaufarbeitung vorzuweisen hat, nicht, wie wir heute sehen. Vielleicht haben wir die Geschichte zu lange als adäquates Mittel der Gewaltprävention angesehen.

Sonja Hegasy

© Qantara.de 2017

Sonja Hegasy ist stellvertretende Direktorin des Berliner "Leibniz-Zentrum Moderner Orient".