Der Rohingya-Alarm

Die ethnischen Säuberungen gegen die Rohingya in Myanmar zählen zu jenen Katastrophen, die die Weltgemeinschaft völlig unvorbereitet treffen. Allerdings sollten wir mittlerweile in der Lage sein, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um einen drohenden Völkermord abzuwenden. Von Bernard Henri-Lévy

Von Bernard-Henri Lévy

Wie so oft war es ein Künstler, der die Alarmglocken läutete. Sein Name ist Barbet Schroeder, und seine Warnung kam in Form seines brillianten, nüchternen Films The Venerable W., in dem er den myanmarischen buddhistischen Mönch Ashin Wirathu porträtiert. Wirathu, auch als "W" bekannt, steht für die andere Seite einer Religion, die allgemein als Archetyp des Friedens, der Liebe und der Harmonie angesehen wird. Und nicht nur die rassistische Einstellung dieses einen Mönchs versetzt uns in Erstaunen, sondern auch die Gewalt, zu der viele Buddhisten bereit sind.

Schroeders Film, der in diesem Jahr beim Festival von Cannes gezeigt wurde, fand in den Medien ein eindrucksvolles Echo. Und bei einem nachfolgenden Fernsehauftritt warnte er bereits, Wirathus blutdürstige "Bewegung 969" habe es auf die Rohingya abgesehen, die muslimische Minderheit in Myanmars Bundesstaat Rakhine.

Die ausgeschlossene Minderheit

Dies sollte niemanden überraschen. Die Millionen Männer und Frauen vom Volk der Rohingya gelten in ihrem eigenen Land als staatenlos. Es ist ihnen verboten zu wählen oder sich politisch vertreten zu lassen, und sie haben auch keinen Zugang zu Krankenhäusern und Schulen. Und immer wenn das Militär, das Myanmar seit einem halben Jahrhundert tyrannisiert, genug davon hat sie auszuhungern, müssen sie Pogrome über sich ergehen lassen.

Der Status der Rohingya ist von einer berechnenden Grausamkeit bestimmt, die in ihrer Art einmalig ist: Obwohl Myanmar so besessen von Fragen der Rassenzugehörigkeit ist, dass dort 135 "nationale ethnische Zugehörigkeiten" unterschieden werden, sind die Rohingya offenbar "eine Rasse zu viel" und offiziell nicht anerkannt. In diesem Sinne sind sie entwurzelt, aber gleichzeitig an ihre Heimat gebunden, da es ihnen verboten ist, ihren Herkunftsort zu verlassen, anderswo zu arbeiten oder zu heiraten und die Größe ihrer Familie frei zu bestimmen.

Hier stehen wir also vor einem dieser Momente, die völlig unangekündigt zu kommen scheinen, in denen wir aber inzwischen in der Lage sein sollten, einen drohenden Völkermord zu erkennen. Fast 400.000 Menschen, die bisher als "Untermenschen" galten, sind nun zu gejagten Tieren geworden. Man hat sie aus ihren Dörfern, in denen sie bislang gefangen gehalten wurden, ausgeräuchert. Man hat auf sie geschossen, sie auf die Straße getrieben, zum Spaß gefoltert und massenhaft vergewaltigt.

Die Überlebenden finden in provisorischen Lagern hinter der Grenze des benachbarten Bangladesch Zuflucht – einem der ärmsten Länder der Welt, dem es zwar nicht am guten Willen, aber an den Ressourcen mangelt, den immer größeren Flüchtlingsströmen eine angemessene Unterkunft zu geben.

Verzagtheit überwunden

Die Vereinten Nationen haben ihre übliche Verzagtheit überwunden und ihr noch verbleibendes moralisches Kapital dafür eingesetzt, diese Verbrechen zu verurteilen und die Rohingya zur weltweit am stärksten verfolgten Minderheit zu erklären. Für diejenigen, die sich erinnern wollen, ähneln die ethnischen Säuberungen in Rakhine denjenigen im ehemaligen Jugoslawien der 1990er Jahre und den noch schlimmeren Massakern in Ruanda im selben Jahrzehnt.

[embed:render:embedded:node:29069]Aber viele möchten dies einfach nicht wahrhaben. Da die Verfolger der Rohingya Journalisten und Fotografen den Zugang erschweren und damit verhindern, dass ihre Opfer ein Gesicht bekommen – und da die Rohingya in einer Zeit Muslime sind, in der Muslime wenig beliebt sind – wendet die Welt größtenteils den Blick von diesem Konflikt ab.

Da wir nun vor dieser bereits angekündigten Tragödie stehen, sollten wir uns das vergegenwärtigen, was mein verstorbener Freund, der Philosoph Jean-François Revel, "ungenutztes Wissen und Neigung zur Ignoranz" genannt hat. Wir sollten die Naivität verurteilen, mit der viele von uns, mich eingeschlossen, Aung San Suu Kyi, die "Lady von Rangun", heiliggesprochen haben. Auch über sie wurde ein Film gedreht, der hagiographischer hätte nicht sein können, und rückblickend äußerst abstoßend wirkt. Seit sie im letzten Jahr zur De-Facto-Staatsführerin von Myanmar gekürt wurde, hat sie die Rohingya völlig ihrem Schicksal überlassen.

Eine zweifelhafte Friedensbotschafterin

Als Suu Kyi im Jahr 1991 den Friedensnobelpreis bekam, schien sie ihn verdient zu haben, da sie zu dieser Zeit wie die Reinkarnation von Nelson Mandela, Mahatma Gandhi und des Dalai Lama gleichzeitig wirkte. Aber von dem Moment an, als sie der Welt feierlich erklärte, sie habe in Sittwe nichts gesehen, auch im Rest des Bundesstaates Rakhine sei nichts passiert und die immer stärkeren Beweise für das Gegenteil seien lediglich die "Spitze eines Eisberges von Desinformation", wurde ihr Nobelpreis zum Alibi.

Die Rohingya sind das jüngste Beispiel eines existenziell bedrohten Volkes: Menschen, denen alles genommen wurde (einschließlich ihres eigenen Todes), die aus der menschlichen Gemeinschaft verbannt wurden und damit keinerlei Rechte mehr haben. Dies sind die Menschen, die Hannah Arendt als feste Bestandteile der menschlichen Zukunft prophezeit hat – lebende Vorwürfe gegen bedeutungslos gewordene Erklärungen der Menschenrechte.

Aber bevor uns eine solche Zukunft ereilt, möchte ich einen Wunsch äußern. Am 22. September hielt eine ganz andere Frau, nämlich Sheikh Hasina, die Ministerpräsidentin von Bangladesh, eine Rede vor den Vereinten Nationen, in der sie zu einer internationalen Antwort auf die Rohingya-Krise aufrief. Ich kenne Hasina schon seit fast 50 Jahren, und in dieser Zeit hatte ich häufig Gelegenheit, sie auch überaus schätzen zu lernen. Ich bewundere nicht nur ihre noble Einstellung, sondern auch ihre tiefe und dauerhafte Hingabe an einen gemäßigten und vernünftigen Islam, der die Rechte der Menschen – nicht nur der Männer, sondern auch der Frauen – vollständig respektiert.

Man kann nur hoffen, dass ihre Rede in New York City das Gewissen der Menschheit aufgerüttelt hat und sie gehört wurde. Und dass der Alarm, den sie damit ausgelöst hat, keine Totenglocke sein wird.

Bernard Henri-Lévy

© Project Syndicate 2017

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Bernard-Henri Lévy ist einer der Gründer der Bewegung der "Nouveaux Philosophes" (Neuen Philosophen). Zu seinen Büchern gehören "Left in Dark Times: A Stand Against the New Barbarism", "American Vertigo: Auf der Suche nach der Seele Amerikas". Sein jüngstes Werk trägt den Titel "The Genius of Judaism".