Tag der Abrechnung

30 Jahre nach dem Militärputsch entscheiden die Türken über eine Reform ihrer Verfassung, die ein Produkt des Umsturzes war - und damit auch über die Zukunft der Regierung Erdogan. Von Kai Strittmatter

Wasserwerfer auf den Straßen von Ankara während des Putsches vom 12. September 1980; Foto: AP
Nach dem Militärputsch am 12. September 1980, geführt von General Kenan Evren, wurden tausende von politischen Gefangenen gefoltert und hunderte zum Tode verurteilt. Nach Angaben von amnesty international starben 171 Menschen unter Folter.

​​ Am Sonntag ist Tag der Abrechnung in der Türkei. Fragt sich nur mit wem. Erstmals stimmen die Türken in einem Referendum über die Reform ihrer alten Verfassung ab. Einer Verfassung, die nach dem Militärputsch von 1980 geschrieben wurde und die bis heute den Geist dieses Putsches atmet.

Für die Regierung und ihre Anhänger, aber auch für viele Liberale ist das Referendum eine Abrechnung mit dem Putsch und seinem autoritären Erbe, unter dem die Türkei noch immer leidet.

Die Abstimmung findet nicht zufällig am 12. September statt: dem 30. Jahrestag des Umsturzes. Ganz anders sieht das die Opposition: Für sie ist das Referendum die Möglichkeit zur Abrechnung mit Premier Tayyip Erdogan und der Regierung.

Es wird spannend. Die Türkei ist Umfragen zufolge gespalten in zwei fast gleich große Blöcke von Ja- und Neinsagern. Die Kurdenpartei BDP ruft derweil zum Boykott auf, weil sie die Forderungen der Kurden nicht berücksichtigt sieht.

Politische Schlammschlacht

Eine türkische Zeitung nannte das Referendum eine "Fallstudie darüber, wo unsere Gesellschaft steht was rationales Verhalten und politische Reife angeht". Es bleibt dem Wahlvolk vorbehalten, da am Sonntag ein besseres Bild abzugeben als Politiker und Medien im Vorfeld.

Die Türkei erlebte in den vergangenen Wochen wieder einmal eine Schlammschlacht, bei der kaum eine Verleumdung und Beleidigung ausgelassen wurde. Die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP ging nicht nur Premier Erdogan an, dem sie eine Partnerschaft mit PKK-Terroristen andichtete.

Türkischer Premier Erdogan; Foto: AP
Partner des PKK-Terrors?: Während sich Regierungspartei und Opposition eine politische Schlammschlacht lieferten, fiel eine sachliche Auseinandersetzung mit den Inhalten der geplanten Verfassungsreform unter den Tisch.

​​ Ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu attackierte auch das EU-Parlament, so zornig war er über den Beifall aus Brüssel für die geplante Verfassungsreform, in der zum Beispiel die Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlamentes, Ria Oomen-Ruijten, einen "Schritt in Richtung Demokratisierung" sieht.

Kilicdaroglu unterstellte den EU-Politikern, sie hätten sich von der Regierung in Ankara kaufen lassen: "Welche Geschenke haben diese Leute bekommen?", fragte er in einem Interview.

Erdogan griff nicht weniger daneben: In einer Rede ging er so weit, die türkische "Abstammung" seines Rivalen Kilicdaroglu in Zweifel zu ziehen.

Defilee von Jasagern

Frustrierend für viele: Weil die Erdogan-Gegner das Referendum allein zu einer Abstimmung über den Premier machen wollen, war von den Inhalten der Reform praktisch nicht die Rede.

Auf einem großen "NEIN!"-Plakat der rechtsnationalen MHP hieß es: "Nein zur Korruption. Nein zur Arbeitslosigkeit. Nein zum Terror." "Fehlt bloß noch 'Nein zu den Stechmücken im Sommer'", spottete ein Passant.

Kemal Kilicdaroglu; Foto: AP
Zornig über den Beifall aus Brüssel: Oppositionsführer Kilicdaroglu (CHP) kritisierte die Berichterstatterin des EU-Parlaments, weil sie der Türkei einen "Schritt in Richtung Demokratisierung" attestierte.

​​ Die Regierung schlug zurück mit einem oft ähnlich nichtssagenden Defilee von Jasagern. Einmal trat die Gewerkschaft der Milchproduzenten auf und verlas vor der Presse ihr "Ja zur kontrolliert produzierten Milch, Ja zur nationalen Einheit und Ja zum Referendum!"

Neben den kategorischen Ja- und Neinsagern gibt es noch ein drittes Lager: Vornehmlich europäisch gesinnte Liberale, die unter dem Banner "Nicht genug - aber trotzdem Ja" für die Reformen werben.

"Nicht genug" vor allem deshalb, weil unter ihnen Konsens ist, dass die Türkei eine komplett neue Verfassung braucht und das Herumdoktern an einzelnen Artikeln lediglich ein Provisorium sein kann.

Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und die Pop-Sängerin Sezen Aksu zum Beispiel bekannten sich zu einem solchen "Ja, aber". Es blieb meist Repräsentanten dieses Lagers vorbehalten, die Menschen daran zu erinnern, um was es eigentlich geht.

Die Wurzel allen Übels

Hasan Cemal zum Beispiel, ein liberaler Autor und Journalist bei der Zeitung Milliyet erinnerte an den Putsch von 1980, an die Folterkerker, die Tausenden von Toten, daran, wie die Putschgeneräle mit ihrer Gewalt im Alleingang den kurdischen Terror schufen.

"Kurz gesagt: Der Coup vom 12. September ist die Wurzel allen Übels, das in den letzten 30 Jahren über uns kam", schreibt er. Cemal - beileibe kein Fan von Premier Erdogan - wirbt für ein Ja: Das Reformpaket sei "eine Chance für die türkische Politik, Reife zu erlangen."

Das Reformpaket umfasst Änderungen an insgesamt 26 Artikeln. Unter anderem sollen ein besserer Datenschutz, mehr Rechte für Kinder und Behinderte und die positive Diskriminierung von Frauen in die Verfassung.

Direkt das Militär betreffen die Beschränkung der Militärjustiz sowie die Abschaffung von Artikel 15, der Putschisten Immunität vor Strafverfolgung garantiert.

Besonders umstritten sind jene Änderungen, die dem autoritären Erbe des Militärregimes in der Justiz ein Ende bereiten sollen: die Reform des Verfassungsgerichtes sowie des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK). Die Zahl der Mitglieder in beiden Gremien wird erhöht und ihre Wahl neu geregelt.

Die Opposition beklagt, die Regierung wolle so die Richter unter ihre Kontrolle bekommen, die Unabhängigkeit der Justiz sei in Gefahr. Es drohe eine "Einparteiendiktatur" der AKP, polemisiert die CHP.

Liberale Juristen in der Türkei entgegnen, die hohe Justiz habe ihre Macht bisher vor allem dazu benutzt, das alte undemokratische Regime zu beschützen. Die EU-Kommission kritisierte an dem Paket ebenfalls die Tatsache, dass ausgerechnet der Justizminister dem HSYK vorstehen soll - insgesamt aber seien die Reformen "ein Schritt in die richtige Richtung".

Autor Hasan Cemal appellierte an die vielen Kritiker: "Ein Gegner dieser Regierung zu sein, muss doch nicht bedeuten, dass man ihr in den Rücken fällt, wenn sie einmal etwas richtig macht."

Kai Strittmatter

© Süddeutsche Zeitung 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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