Plädoyer für einen Flüchtlingssolidaritätszuschlag

Angesichts der Flüchtlingskrise in Europa sollte Bundeskanzlerin Merkel die Besserverdienenden und Vermögenden für die akute nationale Aufgabe heranziehen. Das wäre ein ebenso notwendiges wie kluges politisches Signal, das für die Wahrung des sozialen Friedens enorme Bedeutung haben könnte, meint Stefan Buchen.

Von Stefan Buchen

Harvestehude ist einer der vornehmeren Stadtteile Hamburgs. Hier wohnen Geschäftsleute, Ärzte, Größen des Showbusiness und Leute, die sich reich geerbt haben. Die allerbesten Lagen geben den Blick frei über die idyllische Außenalster. Auf den Straßen und Wegen zwischen den Villen schlägt dem Gast die Aura einer satten Gesellschaft entgegen.

Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea würden da nur stören, meinen die Anwohner eines Teilgebiets von Harvestehude, das man "Sophienterrassen" nennt. Erfolgreich haben sie gegen die Nutzung eines leerstehenden ehemaligen Vewaltungsgebäudes in ihrer Nachbarschaft als Unterkunft für 220 Schutzsuchende geklagt. Die Stadt musste den Umbau des ehemaligen "Kreiswehrersatzamtes" der Bundeswehr zu einem Flüchtlingsheim stoppen. Das hat das Hanseatische Oberverwaltungsgericht im Juni entschieden.

Vor Gericht konnten die Anwohner sich auf die Tatsache berufen, dass ihr Quartier in der Zeit des Dritten Reichs als "besonders geschütztes Wohngebiet" ausgewiesen und der "Gebietserhaltungsanspruch" im Bebauungsplan von 1955 bestätigt worden war. In einer solchen Nachbarschaft sei die Nutzung eines Gebäudes zu "sozialen Zwecken" nicht vorgesehen. Und die Unterbringung von Flüchtlingen sei ein "sozialer Zweck".

Der Fall liegt quer in einer Zeit, in der Städte und Gemeinden in Deutschland händeringend nach Wohnraum für Flüchtlinge suchen und "zur Vermeidung von Obdachlosigkeit" zunehmend Zeltlager und Containersiedlungen als Notbehelf aufstellen. Der Fall zeigt, dass neben dem pöbelnden und brandstiftenden Neonazimob auch noch andere "Widerstand" gegen die Aufnahme von Schutzsuchenden in Deutschland leisten. Er wirft die Frage nach der Rolle der Vermögenden in der Flüchtlingskrise auf.

Bewältigung der Flüchtlingskrise als "nationale Aufgabe"

Angesichts der für 2015 prognostizierten 800.000 Flüchtlinge in Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel betont, dass "wir nicht so handeln können, als ob wir in einer ganz normalen Situation wären." Es war die Merkelsche Art, den Ausnahmezustand auszurufen. Die bevorstehende "nationale Aufgabe" verglich Merkel mit der Bewältigung der Finanzkrise 2008, mit der 2011 eingeleiteten Abkehr von der Nuklearenergie und mit dem "Aufbau Ost" nach der Wiedervereinigung in den Neunziger Jahren.

Neben dem Gelände des ehemaligen Kreiswehrersatzamts (l) an den Sophienterrassen nahe der Außenalster in Hamburg sollte ein Flüchtlingsheim errichtet werden; Foto: picture-alliance/dpa
Flüchtlinge unerwünscht: Im Oktober 2014 hatten Harvestehuder Bürger gegen die Nutzung eines leerstehenden ehemaligen Vewaltungsgebäudes in den “Sophienterrassen” als Unterkunft für 220 Schutzsuchende geklagt. Das Verwaltungsgericht der Hansestadt hatte daraufhin dem Eilantrag stattgegeben und den Umbau des Gebäudes gestoppt.

Was genau die Bundesregierung tun will, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, möchte sie im Laufe des Monats September der Öffentlichkeit mitteilen. Klar ist, dass schnell im ganzen Land neue Unterkünfte herbei müssen und dass dringend ein Plan vonnöten ist, die oft traumatisierten Menschen zu integrieren, sowohl in die Gesellschaft als auch in den Arbeitsmarkt. Unzweifelhaft wird diese "nationale Aufgabe" Geld kosten. Beiläufig sprach Merkel in ihrer Sommerpressekonferenz von "einigen Milliarden".

Wo soll das Geld herkommen? Aus der Staatskasse wie bei der Bankenrettung? Das ist unvermeidlich. Aber der Moment ist gekommen, jenseits des bekannten Trampelpfades der Neuverschuldung über neue Wege der Geldbeschaffung nachzudenken. Wege, die der "nicht ganz normalen Situation" angemessen sind.

Bevor der Finanzminister die "schwarze Null" des ausgeglichenen Haushalts aufgibt, sollten Wolfgang Schäuble und die Kanzlerin die Besserverdienenden und Vermögenden für die akute nationale Aufgabe heranziehen. Das wäre ein ebenso notwendiges wie kluges politisches Signal, das für die Wahrung des sozialen Friedens im Angesicht der Flüchtlingskrise enorme Bedeutung haben könnte.

Deutschland braucht den "Flüchtlingssolidaritätszuschlag" der wirtschaftlich Starken. Wenn etwa alle, die mehr als 150.000 Euro im Jahr verdienen, 0,5 Prozent ihres Einkommens und alle, die über ein Vermögen von mehr als 1 Million Euro verfügen, jährlich 0,2 Prozent davon für Flüchtlinge abzweigen würden, kämen jene "einige Milliarden", von denen die Kanzlerin sprach, zusammen.

Die Bundesregierung könnte den Flüchtlingssolidaritätszuschlag im Detail so gestalten, dass er mit dem Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes vereinbar wäre. Und sie könnte ihn zunächst auf fünf Jahre befristen.

Hohes Konfliktpotential

Weder die Hilfsbereitschaft vieler Deutscher, die Wasser und Brot zu den überfüllten Bahnhöfen und Erstaufnahmelagern tragen, noch die breite Empörung über die Gewalttaten der Rassisten sollten über das hohe Konfliktpotential hinwegtäuschen, das die Integration vieler Flüchtlinge in den Städten und Gemeinden mit sich bringt. In den Ballungszentren ist Wohnraum knapp und bezahlbarer menschenwürdiger Wohnraum für die wirtschaftlich Schwachen so gut wie nicht vorhanden.

Unweigerlich werden die wirtschaftlich schwachen Alteingesessenen, ob Deutsche mit oder ohne Migrationshintergrund, mit den mehrheitlich mittellosen Flüchtlingen in Konkurrenz um preiswerten Wohnraum treten. Das kann Rassismus und Gewalt anheizen und altbekannten Reden von den "Fremden, die uns was wegnehmen", neuen hässlichen Schwung verleihen.

Demonstration für Flüchtlingsschutz in Berlin; Foto: dpa/picture-alliance
"Die Bundesregierung muss jetzt im großen Stil das tun, was die Damen und Herren Richter des Hanseatischen Oberverwaltungsgerichts im kleinen schicken Harvestehude verweigert haben: sie muss die Solidarität der Oberschicht einfordern", schreibt Buchen.

In der Flüchtlingskrise haben Konzernbosse und Lobbyisten des deutschen Mittelstandes ganz liberal für "Offenheit" plädiert. Flüchtlinge könnten zu Fachkräften ausgebildet werden und den diesbezüglichen Mangel beheben helfen, ist aus berufenem Munde zu hören. Das ist schön und gut, aber aufgepasst! Auch die Baumwollplantagenbesitzer vor 250 Jahren waren für "Migration". Heute können die "Migranten" nicht mehr versklavt, heute müssen sie aufwändig ausgebildet werden. Außerdem steht ihnen menschenwürdiger Wohnraum zu.

Beitrag zur Pflicht erheben

Soll dafür in erster Linie die Allgemeinheit der Steuerzahler aufkommen? Es drängt sich die Forderung auf, dass die Unternehmer und Vermögenden, die am Ende von der Wanderung der Flüchtlinge besonders profitieren werden, hierzu einen besonderen Beitrag zu leisten haben.

Dieser Beitrag kann nicht von philantropischen Werken Einzelner wie dem Schauspieler Til Schweiger gedeckt werden. Der Staat muss, wenn er Courage zeigen will, den Beitrag zur Pflicht machen. Er würde so akute Probleme lösen und eine deeskalierende Botschaft in die Gesellschaft hineinsenden. Er kann nicht die Augen davor verschließen, dass die Flüchtlingskrise mit dem immer schnelleren Auseinanderdriften zwischen arm und reich zusammenfällt.

Die Idee hat gewiss etwas Sozialdemokratisches. Das Traurige ist, dass in Deutschland keine Partei die Kraft und Kreativität hat, sich diese Idee zu eigen zu machen, am allerwenigsten die "sozialdemokratische Partei". Dabei ist der Moment ein durchaus erhebender.

In Budapest festsitzende Flüchtlinge skandieren "Deutschland" und machen sich zu Fuß auf in dieses "Land der Hoffnung" (Angela Merkel). Welch ein Wandel, wenn man sich daran erinnert, wohin Deutschland vor 71 Jahren "die Reise der Anderen" von Budapest aus organisierte. Aber auf die momentane "positive Stimmung" allein sollte man sich nicht verlassen.

Die Bundesregierung muss jetzt im großen Stil das tun, was die Damen und Herren Richter des Hanseatischen Oberverwaltungsgerichts im kleinen schicken Harvestehude verweigert haben: sie muss die Solidarität der Oberschicht einfordern.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2015

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.