Studenten in der Schusslinie

An Ägyptens Universitäten lebt die Revolution fort – noch. Mit einer immer härteren Gangart will die Regierung den Widerstand der Studenten brechen. Einzelheiten von Markus Symank aus Kairo

Von Markus Symank

Marwa redet schnell und viel. So, als wolle sie noch alles los werden, bevor die Regierung ihr einen Maulkorb überstülpt. "Sie versuchen uns auf jede erdenkliche Weise einzuschüchtern. Aber wir werden nicht schweigen!“, sagt die Medizinstudent aus Kairo.

Sie, das ist die ägyptische Regierung, die mithilfe ihres omnipräsenten Sicherheitsapparates und mit immer schärferen Gesetzen versucht, die Universitäten des Landes unter Kontrolle zu bekommen. Wir, das sind politisch aktive Studenten wie Marwa, die nicht gewillt sind, auf ihre hart erkämpften Freiheiten zu verzichten. Vor einigen Tagen erst wurde die 23-Jährige für die Dauer von zwei Wochen von der Ain-Schams-Universität suspendiert. Als führendes Mitglied der dortigen Studentenvereinigung hatte sie eine Gedenkzeremonie für einen Kommilitonen organisiert, der vor drei Jahren getötet wurde. Das legte man ihr als Versuch aus, die Universität zu stürmen. "Alles, was irgendwie nach Politik riecht, verbieten sie uns", sagt Marwa.

Die Universitäten als Hochburgen des Widerstands

Die Hochschulen des Landes bereiten dem Regime um Präsident Abdel Fattah al-Sisi Kopfschmerzen. Während andernorts die Massenproteste gegen die Armeeherrschaft weitgehend abgeklungen sind, kommen die Universitäten nicht zur Ruhe. Seit Beginn des Wintersemesters vergeht kaum ein Tag ohne Proteste, häufig begleitet von blutigen Krawallen und willkürlichen Festnahmen.

Laut Informationen der "Vereinigung für Gedanken- und Ausdrucksfreiheit" ("Atef") in Kairo sind allein im vergangenen Monat landesweit mehr als 160 Studenten verhaftet und über 300 weitere von der Universität verwiesen worden. Insgesamt sollen sich derzeit etwa 2.000 Studenten in Haft befinden. Besonders hoch ist die Zahl an der religiösen Al-Azhar-Universität. Dort sind überdurchschnittlich viele Anhänger der mittlerweile verbotenen Muslimbruderschaft eingeschrieben.

Die Anwältin Fatma Serag von der Organisation "Atef"; Foto: Markus Symank
"Die Regierung reagiert auf den Widerstand der Studenten mit noch mehr Gewalt. Besser wäre es, sie würde auf deren legitime Forderungen eingehen", meint die Anwältin Fatma Serag von der Organisation "Atef".

Die zunehmende Gewalt hat inzwischen auch zahlreiche Todesopfer gefordert. Zuletzt erlag vor zwei Wochen ein Student in Alexandria seinen schweren Kopfverletzungen. Gemäß Augenzeugen soll die Polizei auf ihn geschossen haben. Insgesamt kamen bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften seit dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 mindestens 19 Studenten ums Leben. "Das ist die höchste Opferzahl an ägyptischen Universitäten seit der britischen Besatzung", hält die Anwältin Fatma Serag von der Organisation "Atef" fest.

"Es geht die Angst um"

Noch vor Semesterbeginn gab sich die Regierung in Kairo zuversichtlich, die Proteste nach dem von Gewalt und Chaos dominierten Vorjahr in den Griff zu bekommen. Sie autorisierte die Universitäten, jederzeit die Polizei auf den Uni-Campus zu beordern. Die private Sicherheitsfirma "Falcon" wurde damit beauftragt, Studenten an den Eingängen nach Waffen und Sprengstoff abzusuchen. Und das Innenministerium rüstete die Hochschulen mit Metalldetektoren und Überwachungskameras aus.

Doch der Schuss ging nach hinten los. Gleich am ersten Tag des neuen Semesters entlud sich der Zorn der Studenten in Massenprotesten. Als vor zwei Wochen eine selbstgebaute Bombe vor dem Eingang der Universität Kairo explodierte und elf Personen verletzte, darunter einen hohen Polizeioffizier, geriet die Lage weiter außer Kontrolle. Die Beamten von "Falcon" waren mit der Situation überfordert, weshalb Hundertschaften der Polizei ausrücken mussten.

Vergangenen Dienstag stürmten in der nördlich von Kairo gelegenen Stadt Mansura sogar erstmals Armeesoldaten das Universitätsgelände. "Es geht die Angst um. Jeder, der den Sicherheitskräften nicht passt, kann festgenommen werden", berichtet Studentenführer Hosam Fahmi, der an der Universität Tanta im Nildelta eingeschrieben ist. Anwältin Fatma Serag hält das Vorgehen für brandgefährlich: "Die Regierung reagiert auf den Widerstand der Studenten mit noch mehr Gewalt", sagt sie. "Besser wäre es, sie würde auf deren legitime Forderungen eingehen."

Alle in die gleiche Ecke gedrängt

Als Folge der staatlichen Unterdrückung verschwimmen die Trennlinien zwischen islamistischen Demonstranten und anderen Regierungsgegnern. Vor einem Jahr waren es noch fast ausschließlich Anhänger der Muslimbruderschaft, die protestierten. Nun solidarisieren sich auch immer mehr säkular ausgerichtete Studentengruppen mit ihnen. "Die Ideologie der Muslimbrüder teile ich nicht. Aber wenn es um Menschenrechte geht, müssen wir zusammenhalten", fordert die Aktivistin Marwa.

Ägyptische Sicherheitskräfte vor der Uni Kairo nach einem Bombenanschlag im Oktober 2014; Foto: AP/Mohammed Abu Zaid
Mit Gewalt gegen revoltierende Studenten: Noch vor Semesterbeginn gab sich die Regierung in Kairo zuversichtlich, die Proteste nach dem von Gewalt und Chaos dominierten Vorjahr in den Griff zu bekommen. Sie autorisierte die Universitäten, jederzeit die Polizei auf das Campus zu beordern. Doch der Schuss ging nach hinten los. Gleich am ersten Tag des neuen Semesters entlud sich der Zorn der Studenten in Massenprotesten.

Hosam Fahmi, Vorsitzender der ägyptischen Studentenvereinigung in Tanta, meint ebenfalls, dass man angesichts des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte nicht schweigen könne. Seine Vereinigung, an der sich Studenten der "Protestbewegung 6. April", der "Revolutionären Sozialisten" sowie andere politische Gruppen beteiligen, übt aber auch Kritik an den Islamisten. "Es ist eine Tatsache, dass die Muslimbrüder Krawallmacher in den eigenen Reihen haben", so Fahmi. Auch kämpften sie nur für ihre eigenen Anliegen, nicht für die aller Studenten. Die Studentenvereinigung versuche daher, auf Distanz zu den Islamisten zu bleiben. Dies sei allerdings zunehmend schwierig, da die Regierung alle politisch aktiven Studenten in die gleiche Ecke dränge.

Polizei setzt Spitzel ein

Die islamistischen Studenten weisen dagegen jede Schuld an der Eskalation weit von sich. "Die Regierung ist allein für die Gewalt verantwortlich", sagt Mahmud al-Azhari, Sprecher der Gruppierung "Studenten gegen den Armeeputsch", die den Muslimbrüdern nahe steht. Al-Azhari, der als Vorsichtsmaßnahme Interviews nur über Skype gibt, zieht als Beispiel die jüngste Verhaftungswelle von unbeteiligten Studenten heran. So inhaftierte die Polizei im vergangenen  Januar 34 Studenten an der Universität Kairo, die gerade ihre Examen ablegten. Acht Monate mussten sie ohne Anklage im Gefängnis ausharren. Erst im letzten September kamen sie frei.

Gleichzeitig macht die Polizei gezielt Jagd auf Studentenführer. Dabei können die Sicherheitskräfte den Studentenvereinigungen zufolge auch auf Spitzel unter Dozenten und Professoren zählen.

"Die Regierung missbraucht den Kampf gegen wenige gewaltbereite Studenten, um die nach der Revolution erzielten Fortschritte inpunkto Rede- und Versammlungsfreiheit wieder rückgängig zu machen", kritisiert Fatma Serag. Bislang scheint ein Großteil der Bevölkerung das rücksichtslose Vorgehen der Machthaber zu unterstützen, wohl auch wegen der propagandistischen Begleitung durch die Staatsmedien. Doch einige Beobachter glauben, dass sich die Stimmung drehen könnte, sollten die Sicherheitskräfte ihren rücksichtslosen Kurs beibehalten.

Warnung vor einem neuen Knall

Vergangene Woche drehte die Regierung erneut an der Eskalationsschraube: Präsident Sisi verabschiedete ein Dekret, wonach Studenten und Schüler, die Bildungseinrichtungen "sabotieren", künftig vor Militärgerichte gestellt werden können. Menschenrechtler halten den Gummiparagraphen für verfassungswidrig. Hosam Fahmi glaubt, die drakonische Gesetzgebung könne kurzfristig dazu führen, dass an den Universitäten Ruhe einkehre. Allerdings fürchtet er, dass sich der Unmut im Untergrund weiter anstauen und irgendwann explodieren wird.

Ähnlich schätzt die Situation auch die Aktivistin Marwa ein. Sie warnt: "Wenn man Menschen lange genug wie Terroristen behandelt, dann werden sie irgendwann zu Terroristen."

Markus Symank

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