Wo ist zu Hause?

Wöchentlich treffen sich in Berlin Jugendliche, die verschiedener nicht sein könnten. Doch eins haben sie gemeinsam: keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Von Silke Kettelhake

​​Sie kommen alleine oder mit ihren Geschwistern. Ihr Ziel sind deutsche Großstädte wie Hamburg, Frankfurt oder Berlin. Meist haben ihre Eltern sie ins Flugzeug gesetzt oder ein Vermögen an Schlepperorganisationen bezahlt. Die Kinder sollen es einmal besser haben. Das gelingt nicht unbedingt.

Knapp zwanzig Jungen und Mädchen treffen jeden Monat in Berlin ein. "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" heißen sie im Amtsjargon. Doch dem Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Bösch-Soleil, ist das nicht präzise genug: "Das sind illegal eingereiste Asylsuchende. Die erste Bezeichnung impliziert eine Rechtsqualität, die so nicht gegeben ist. Da bin ich Verwaltungsmensch."

In der UN-Kinderrechtskonvention, am 26. Januar 1990 von der Bundesrepublik unterzeichnet, heißt es: "Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist."

Gerade Kinder und Jugendliche geraten in den Krisengebieten der Welt häufig zwischen die Fronten, leiden unter Folter, Prostitution oder Sklaverei, haben kaum Chancen. Weltweit sind 1,5 Millionen Kinderflüchtlinge unterwegs. Angekommen im rettenden Westen, verliert sich meist ihre Spur. Niemand weiß genau, wie viele von ihnen bleiben, wie viele wieder abgeschoben werden.

Aussicht auf Sicherheit und eine menschenwürdige Behandlung haben die wenigsten, auch nicht in Deutschland. Mit dem Asylverfahren beginnt oft eine Reihe von Schwierigkeiten und Verunsicherungen. Ab 16 Jahren gelten Jugendliche als mündig, müssen mit den gleichen Konsequenzen wie Erwachsene rechnen und ihren Asylantrag eigenständig stellen.

Im Treppenhaus des Beratungszentrums für junge Flüchtlinge und Migranten in Berlin-Moabit riecht es nach fettigen Fischstäbchen. Die Abendsonne taucht das Zimmer in ein unwirkliches glutrotes Licht. Die Gruppe um Ibrahim und Haznyie trifft sich regelmäßig: Kochen, Aktionen besprechen, sich gegenseitig Mut machen. Den Jugendlichen bedeuten diese Treffen viel.

Die meisten leben in Heimen oder kleinen Wohnungen, über die ganze Stadt verteilt. "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" dürfen nicht arbeiten. Eigentlich sollen sie nichts tun als warten – auf den Bescheid zur Abschiebung.

Haznyie

Immer wieder durchkämmen ihre Finger die langen braunen Haare. Vor acht Jahren setzten ihre Eltern sie und ihre zwei Geschwister ins Flugzeug nach Deutschland. Das verzeiht sie ihren Eltern bis heute nicht.

Haznyie ist 19 Jahre alt und stammt aus dem Iran. Vor zwei Wochen erhielt sie nach einer fünfstündigen Verhandlung ihren Abschiebungsbescheid. Die Begründung der Behörde: Sie sei nicht in der Lage, selbstständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Wie auch, wenn sie nicht arbeiten darf? Haznyie möchte gerne Altenpflegerin werden. Aber sie glaubt nicht mehr daran, dass ihr das gelingen wird.

Das Beschwerdeverfahren gegen die Abschiebung läuft – doch es schützt sie nicht vor einer Ausweisung. Haznyie spricht leise und verhalten. Zu ihrer Familie im Iran ist seit Jahren der Kontakt abgebrochen. Eine Träne nimmt eine dicke Schicht Kajal mit abwärts. Wütend wischt sie sich die Augen. Die Fischstäbchen rührt sie nicht an. "Wir sehen uns dann am Flughafen", der Witz ist alt, aber das sagen sie in der Gruppe immer, wenn sie sich trennen. Man weiß ja nie.

Die Betreuungssituation in Berlin ist, im Vergleich zu anderen Bundesländern, relativ umfassend: "Selbstmelder" oder polizeilich "Zugeführte" kommen in die so genannte Clearingstelle in Berlin-Pankow, "aus allen Ländern, in denen es Fluchtgründe gibt", sagt dort eine Mitarbeiterin. Hier werden die Personalien aufgenommen, hier wird das "Ruhen der elterlichen Sorge" festgestellt. Das Vormundschaftsgericht bestellt einen Amtsvormund, der vom jeweiligen Bezirksamt bezahlt wird.

Mehmet

Kurz vor acht Uhr morgens, gleich geht es los. Mehmet – 21 Jahre, aus Afghanistan – wartet, dass endlich die Ausländerbehörde aufmacht: Er muss seine Duldung verlängern lassen. Was passieren wird, weiß er nicht: "Stempel, ja oder nein. Ich bin doch für die bloß eine Nummer."

Unheimlich findet er die Polizisten im Warteraum. Kinder schreien, sonst ist es still. Von hier aus fuhr schon so manchen ein Polizeiauto in den Abschiebegewahrsam. Ins Gefängnis.

Heute, nach dem Krieg, ist die Lage zu Hause alles andere als sicher. "Falls ich abgeschoben werde, muss ich gleich zur Armee", so Mehmet. Obwohl die Taliban offiziell keine Gefahr mehr darstellen, fürchtet die Familie um ihr Leben. Mehmet bekommt seine Duldung. Für zwei Monate, dann muss er wiederkommen.

Saybet und Taybet

Taybet aus Kurdistan; Foto: Silke Kettelhake
Taybet lebt mit ihren Eltern und Geschwistern in Berlin-Neukölln

​​Sozialer Wohnungsbau, Berlin-Neukölln. Hier geht nichts mehr. Die Geschäfte machen dicht, nur die Nachlassverwalter haben noch zu tun, und in den türkischen Cafés schlagen die Männer beim Kartendreschen die Tage tot.

Die Schwestern Saybet und Taybet, 19 und 20 Jahre alt, kommen aus Kurdistan und wohnen gemeinsam mit ihren drei jüngeren Brüdern und den Eltern in einer kleinen Wohnung. Alles spielt sich in zwei Räumen ab: Essen, Schlafen, Fernsehen.

Die Eltern versuchen, mit Heimarbeiten ihren Sozialhilfesatz aufzubessern. 184, 07 Euro erhält der Haushaltsvorstand. Bis auf einen Betrag von 40 Euro in bar erhalten sie Sachleistungen: Gutschein, Hygienepakete und Lebensmittelchips. Einkaufen auf Chipkarte ist kein Spaß. H-Milch, Reis und ein paar Kartoffeln. Und vielleicht noch eine Dose Tomaten.

Taybet ist froh, dass sie sich wenigstens die Waren aussuchen dürfen. Scheußlich findet sie das Hygienepaket für alle Frauen ab 14 Jahre, für drei Monate: 2 Stück Seife, 2 Tuben Zahnpasta, 1 Zahnbürste, 1 Flasche Shampoo, 1 Deoroller, 1 Hautcreme à 150 ml, 4 Päckchen Taschentücher, 3 Päckchen Damenbinden.

Ibrahim

Berlin-Spandau. Ibrahim wohnt alleine in einem Hochhaus, hellhörige Wände, billiges Linoleum. Der Blick aus dem vierzehnten Stockwerk geht weit nach Westen. Doch Ibrahim darf seinen zugewiesenen Landkreis nicht verlassen. Zu Auswärtsspielen seiner Fußballmannschaft kann der Stürmer oft nicht mitkommen.

Ibrahim: "Ich bin mit zwölf Jahren aus dem Libanon irgendwie hierher gekommen. Keine Ahnung, wie lange ich unterwegs war. Kalt war es. Alles, was ich wusste, war, dass ich meine Eltern eine lange Zeit nicht sehen werde. Damals habe ich nichts begriffen."

Er studiert Rechtswissenschaften. Erst heimlich, dann mit dem Einverständnis seiner Professoren. Jetzt fehlen ihm nur noch wenige Scheine. Dass Flüchtlinge an die Uni dürfen, ist neu und deutschlandweit eine einzigartige Regelung.

"Ich vertrödele doch nicht meine Zeit! Der Schwebezustand des ungeklärten Aufenthalts ist schwer genug zu ertragen. Wenn ich nur zu Hause gesessen hätte - ich wäre verrückt geworden." Als Anwalt möchte er Menschen helfen, die sich in ähnlichen Situationen befinden: "Da kann ich für Gerechtigkeit kämpfen."

Gerechtigkeit, das bedeutet für die jungen Flüchtlinge erst einmal eine Zukunft, die länger dauert als die nächsten zwei Monate. Sie sprechen perfekt deutsch, sie denken deutsch, sie träumen deutsch. Berlin ist ihr Zuhause.

Silke Kettelhake

© Silke Kettelhake

Silke Kettelhake ist Redakteurin bei "fluter.de", dem Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung.

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Informationen über das Zuwanderungsgesetz finden Sie auf der Website des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge