Bibi-TV

Selten ist so falsch von einer wahren Sache gesprochen worden wie in der ARD-Dokumentation über Antisemitismus. Bisher ging es in der Debatte um Zensur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, schlechte Kommunikation und den Einsatz der BILD-Zeitung für Wahrheit und Aufklärung. Die Sache selbst wurde bislang kaum beachtet: der Film und seine Schwächen. Ein Kommentar von Stefan Buchen

Von Stefan Buchen

Der Antisemitismus ist ein altes Phänomen, deutlich älter als der Begriff, der es bezeichnet. Die gleichen stereotypen Darstellungen vom "Juden" kehren an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten wieder. Die Mehrheitsgesellschaft schiebt den Juden gern die Schuld zu an allen möglichen Unliebsamkeiten, von vergifteten Brunnen bis zu überhöhten Preisen. Die Juden sind der klassische politisch und sozial verwundbare "Andere", der sich zum Sündenbock eignet. Heute ist die antisemitische, also judenfeindliche Geisteshaltung weltweit anzutreffen.  

Begründet wird der Antisemitismus mal religiös, mal ästhetisch, mal rassisch, mal anders. Wichtig ist zu beachten, dass er sich je nach historischem Kontext in unterschiedlich starken Nuancen artikuliert und folglich unterschiedliche Grade der Wirkmächtigkeit entfaltet. Nie waren die Folgen des Antisemitismus furchtbarer als unter der kurzen Herrschaft des Dritten Reiches. Sie waren so furchtbar, dass es schwerfällt, die Judenpolitik Hitler-Deutschlands mit anderen historischen Äußerungen des Antisemitismus zu vergleichen.  

Genau das tun aber die Autoren der Fernsehdokumentation "Auserwählt und ausgegrenzt". Sie ziehen eine direkte Linie von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu Julius Streicher, Hitlers Gauleiter in Franken und Verleger des nationalsozialistischen Hetzblattes "Der Stürmer" (Streicher wurde bei den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt und gehenkt).

Palästinenser als Erben des Nationalsozialismus?

Gleich zu Beginn ihres Films machen Joachim Schroeder und Sophie Hafner klar, worum es ihnen im Kern geht: Sie wollen die Palästinenser als die Erben des nationalsozialistischen Antisemitismus darstellen. Mahmud Abbas und die Hamas haben den Stab des Hasses von Hitler und seiner Partei übernommen! Und andere muslimische Kräfte nehmen sich an den Palästinensern ein Beispiel, von Khomeini bis zu den heutigen radikalen Vorstadtmuslimen in Paris und Berlin!

Historische Fakten scheinen diese Erzählung zu stützen. Der frühere Mufti von Jerusalem Muhammad Amin al-Huseini residierte von 1941 bis 1945  als Höfling Hitlers in Berlin und befürwortete den deutschen Massenmord an den Juden. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Huseini, unbelehrbarer Antisemit, in den Nahen Osten zurück. Der hässliche Widerhall der nationalsozialistischen Ideologie lässt sich danach tatsächlich im Gedankengut nahöstlicher Bewegungen nachweisen, von der Muslimbruderschaft biszur Ba'ath-Partei.

Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas
Die Fernsehdokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt“ zieht eine direkte Linie von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu Julius Streicher, Hitlers Gauleiter in Franken und Verleger des nationalsozialistischen Hetzblattes „Der Stürmer“ (Streicher wurde bei den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt und gehenkt).

  Aber ist der Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg jemals die dominierende Kraft politischer Strömungen in der arabisch-islamischen Welt gewesen? Treibt der Judenhass die Palästinenser in ihrer Auseinandersetzung mit Israel an? Ist Mahmud Abbas wie Julius Streicher, wenn er davon schwafelt, dass Rabbiner aufgerufen hätten, die Trinkbrunnen der Palästinenser zu vergiften?

Der Film beantwortet diese Fragen mit "ja" und durchkreuzt so seinen aufklärerischen Anspruch. Er wird zum propagandistischen Machwerk. Ein Zerrbild entsteht, das einem Abgleich mit der Realität nicht standhält.

Den Palästinensern im Westjordanland und in Gaza gehe es gut, wollen uns die Dokumentarfilmer erklären. Wer wolle, finde Arbeit in israelischen Siedlungen. Als Kronzeuge wird ein gut hebräisch sprechender palästinensischer Arbeiter interviewt. Gaza sei kein großes Gefängnis, wie immer behauptet werde. Der Beweis: die Dokumentarfilmer kommen ganz einfach dort hinein, "durch die Tür". Und schon machen sie sich an die Dekonstruktion des Mythos von den Unterdrückten.

Die Hamas-Funktionäre hätten sich "prächtige Villen mit Moscheen am Strand" gebaut. Dank der internationalen Unterstützung seien die Palästinenser das am fürsorglichsten gepäppelte Volk der Erde. Keine andere Nation bekomme pro Kopf so viel Geld. Und trotzdem denken ihre Anführer nur an die Vernichtung der Juden! Man mag es kaum glauben, aber der Film greift antisemitische Klischees auf, um diese nun plötzlich gegen die Palästinenser zu kehren. 

Der Zuschauer sieht in Gaza wohlgenährte Studenten, urbanen Alltag. Die massiven Zerstörungen aus dem Krieg von 2014, die immer noch Teile des Gazastreifens prägen, bekommt der Zuschauer nicht zu sehen. Und um zu belegen, wie viel Platz die Palästinenser in Gaza haben, bringen die Autoren einen Vergleich: in Paris sei die Bevölkerungsdichte vier Mal so hoch! Es wäre falsch, solche Argumente "polemisch" zu nennen.

Polemik kann inspirierend oder unterhaltsam sein. Die Beweisführung der Autoren ist hingegen einfach nur in peinlicher Weise dumm. Für die "Dummen": die französische Hauptstadt hat ein relativ dünn besiedeltes Hinterland. Denken wir nur an den Wald von Fontainebleau. Der Gazastreifen hat überhaupt kein Hinterland, keine Ausgleichsfläche. Er endet an den stark befestigten Grenzen zu Israel und Ägypten.

Menschenrechtler als Staatsfeinde

Logo B'Tselem. Foto: Twitter
Menschrechtsorganisation unter Druck: „Betselem“ ist der jüdische Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In der Organisation arbeiten natürlich auch Nachkommen von Shoah-Überlebenden. Es ist unerträglich, dass deutsche Filmemacher diese Vereinigung diffamieren wie in der Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt“ geschehen, kritisiert Stefan Buchen.



Ohne es zu sagen, übernehmen die Autoren eins zu eins die Sicht des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin ("Bibi") Netanjahu und seiner Regierung. In diesem Weltbild sind nicht nur die Palästinenser, sondern auch israelische Menschenrechtsorganisationen wie Betselem der Feind, weil sie die bei der Besatzung des Westjordanlands begangenen Rücksichtslosigkeiten dokumentieren und damit kritisieren. "Israelfeindliche Stimmungsmache" wird "Betselem" in der Doku vorgeworfen, ohne dass die Autoren Betselem-Vertreter zu dem Vorwurf befragt hätten. 

Der hebräische Name "Betselem" ist aus dem Buch Genesis abgeleitet. Er bedeutet wörtlich "nach dem Bilde von". In dem vollständigen Zitat heißt es, Gott habe den Menschen nach seinem Bild geschaffen. Damit wird das menschliche Leben zum höchsten Gut der Schöpfung erklärt. Mit der Namensgebung stellt sich die 1989 während der ersten Intifada gegründete Vereinigung in die Tradition der jüdischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts (haskala). Gelehrte wie Moses Mendelssohn sahen in dem Bibelzitat eine jüdische Begründung der Menschenrechte.

Anders gesagt: "Betselem" ist der jüdische Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In der Organisation arbeiten natürlich auch Nachkommen von Shoah-Überlebenden. Es ist unerträglich, dass deutsche Filmemacher diese Vereinigung diffamieren wie in der Dokumentation "Auserwählt und ausgegrenzt" geschehen. 

Nicht der Antisemitismus treibt die Palästinenser an, sondern der Kampf um die Aufteilung des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan. Kritik an der gegenwärtigen israelischen Regierungspolitik ist weder zwangsläufig antisemitisch noch antizionistisch. Beide Begriffe helfen in der Analyse der aktuellen Situation kaum weiter.

Netanjahu und seine Regierung stehen für einen übersteigerten israelischen Nationalismus, der darauf abzielt, die Schwäche seiner Nachbarn auszunutzen.  Jeder einigermaßen Informierte weiß, dass die israelische Gesellschaft heute längst nicht mehr so "offen und liberal" ist, wie die Filmemacher behaupten. Dass der zügellose Nationalismus das Feuer in der ohnehin chaotischen Region weiter anheizen wird, ist nicht nur die Auffassung internationaler linker Gruppen, sondern zum Beispiel auch der Bundesregierung.

Die Filmemacher spüren in Deutschland auf dem evangelischen Kirchentag, in Rap-Gruppen und bei Rechtsradikalen propalästinensische Aktivisten auf, die aus antisemitischen Motiven handeln. Hätten sie sich darauf und auf ähnliche Gruppen in anderen europäischen Ländern konzentriert, wären sie ihrem Anspruch, einen Film über den "Hass auf die Juden in Europa" zu machen, gerecht geworden.

Stefan Buchen. Foto: ARD
Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama. Von 1993 bis 1995 studierte er Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv.

Aber das wollten die Autoren offenbar nicht. Sie haben Fakten selektiert und mit Halbwahrheiten und tendenziösen Experten-Einschätzungen so zusammengerührt, dass am Ende Bibi-TV herausgekommen ist.

Der WDR, der den Film ursprünglich für arte produziert hat, räumt "handwerkliche Mängel" ein. Welch schöne Art, das Eigentliche zu übersehen. Als wären wir Deutschen ein praxisorientiertes Volk von Handwerkern, das manchmal leider den Nagel krumm hämmert. Die "handwerklichen Mängel" können nicht die Tatsache vertuschen, dass der Film als Ganzes misslungen ist. Die Entscheidung der arte-Programmdirektion, diesen Film nicht zu senden, war richtig. Die Entscheidung der ARD, den Film nun doch zu senden, ist der Tiefpunkt dieser Affäre. 

Die Deutschen haben nach 1945 sehr verschiedene Wege ausprobiert, mit dem Geschehen der Judenvernichtung im Dritten Reich umzugehen: Verdrängen und Leugnen, "Wiedergutmachung" und Sühnezeichen, Einsatz für den Frieden in Nahost und die Gleichsetzung von Israels Sicherheit mit der deutschen Staatsräson. Oder man sagt wie die Filmemacher: Hitler war nicht allein, die Palästinenser sind genauso antisemitisch wie der "Führer".

All diesen Strategien ist ein Ziel gemeinsam: die Last der Vergangenheit soll geringer werden. Es ist klar, dass dieses Ziel so schnell nicht erreicht werden wird. Dafür liefert die Affäre um die Antisemitismus-Doku einen weiteren Beleg.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2017

Der zunächst von Arte unter Verschluss gehaltene Film „Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa“ wird am 21. Juni am im Ersten um 22.15 Uhr ausgestrahlt. Im Anschluss wird dem Thema eine eigene Diskussionssendung mit Sandra Maischberger gewidmet. [Anm. d. Red.]